Ueber die Tugenden/Einleitung

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Einleitung

[315] In den vier Büchern über die Einzelgesetze hatte Philo bei jedem der zehn Gebote die Vorschriften der Mosaischen Gesetzgebung erörtert, die unter das betreffende Gebot zu fallen und zu ihm zu gehören schienen. Es blieben aber Bestimmungen übrig, die nicht in einer der zehn Rubriken unterzubringen waren, sondern, wie er am Schlusse seiner Ausführungen über die zum zehnten Gebote gehörenden Vorschriften bemerkt (de spec. leg. IV § 133 f.), allgemeinerer Natur sind und mehr unter den Begriff der gemeinnützigen Tugenden fallen, zu deren Ausübung allerdings sämtliche Gebote anleiten wollen. Philo hat es daher für angemessen erachtet, in einem Anhang zum vierten Buch über die Einzelgesetze (§ 136-238) speziell über die Gerechtigkeit zu handeln und die darauf bezüglichen Vorschriften zu erörtern. Einen weiteren Anhang bildet das vorliegende Buch „über die Tugenden“, dass sich unmittelbar an den Abschnitt über die Gerechtigkeit anschliesst, wie aus den ersten Worten klar hervorgeht. Der Titel des Buches lautet bei Eusebius und in der ältesten Philohandschrift: „Ueber die drei Tugenden, die mit anderen Moses geschildert hat (περὶ τριῶν ἀρετῶν ἃς σὺν ἄλλαις ἀνέγραψε Μωυσῆς). Die Handschrift nennt dann weiter im Titel als die drei Tugenden die Tapferkeit, die Menschenliebe und die Reue. Andere Handschriften lassen die Zahl drei im Titel aus und nennen vier Tugenden: die Tapferkeit, die Frömmigkeit, die Menschenliebe und die Reue. Der Abschnitt über die Frömmigkeit fehlt in dem erhaltenen Buche und muss, wenn er je vorhanden war, frühzeitig verloren gegangen sein, da er in dem von Clemens Alexandrinus benutzten Exemplar schon nicht mehr enthalten war. Abgesehen von dem überlieferten Titel scheinen aber auch die Worte § 51 τὴν δ’ εὐσεβείας συγγενεστάτην ... ἑξῆς ἐπισκεπτέον φιλανθρωπίαν darauf hinzudeuten, dass dem Kapitel über die Menschenliebe (περὶ φιλανθρωπίας) ursprünglich nicht das Kapitel über die Tapferkeit (περὶ ἀνδρείας), sondern ein Abschnitt über die Frömmigkeit (περὶ εὐσεβείας) vorausging; es werden auch einige Bruchstücke aus einem Buche Philos περὶ εὐσεβείας zitiert. Durch das ursprüngliche Vorhandensein eines Abschnitts unter diesem Titel würde die Dreizahl der Tugenden in dem von den ältesten Zeugen überlieferten Titel des Buches am besten[316] erklärt: gemeint sind dann unter den drei Tugenden die Tapferkeit, die Frömmigkeit und die Menschenliebe. Denn der in dem Titel der Handschriften genannte kleine Abschnitt über die Reue (περὶ μετανοίας) kann nicht als selbständiges Kapitel neben denen über die Tapferkeit und über die Menschenliebe angesehen werden, er gehört noch zu den Auseinandersetzungen über die Menschenliebe: nachdem Philo die ganz besonders humanen, sozialethischen und zu jeglicher Tugend anleitenden Vorschriften des Mosaischen Gesetzes dargelegt hat, wendet er sich an alle, die noch im Irrglauben befangen sind und ein lasterhaftes Leben führen, und fordert sie auf, reuig zum wahren Glauben sich zu bekennen und einem tugendhaften Leben sich zuzuwenden. Zu der Abhandlung über die Menschenliebe gehört ausserdem das Kapitel über den Adel (περὶ εὐγενείας): mit seinen Erörterungen über den wahren Adel, die sich an den stoischen Grundsatz ὅτι μόνος ὁ σοφὸς εὐγενής (nur der Weise ist adlig) anlehnen, will Philo seinen Glaubensgenossen ans Herz legen, dass sie die Proselyten, auf die er vorher angespielt hat, als völlig gleichberechtigt ansehen und nicht stolz auf sie wegen ihrer fremden Abstammung herabblicken sollen.

Wie das Werk über die Einzelgesetze, hat auch das Buch „über die Tugenden“ stark apologetischen Charakter. Wenn es auch in erster Linie für einen jüdischen Leserkreis bestimmt ist, so hat Philo nebenbei doch sicherlich auch an griechische Leser gedacht, insbesondere an solche, die in ihren Anschauungen dem Judentum nahestanden. Gab es doch zu jener Zeit überall, wo Griechen und Juden zusammenwohnten, zahlreiche sogenannte „Gottesfürchtige“ (φοβούμενοι τὸν θεόν), die sich vom heidnischen Götterdienst losgesagt und dem Monotheismus zugewandt hatten. Aus diesen Kreisen stammten wohl auch zum grossen Teil die vielen Proselyten, die damals vollständig für das Judentum gewonnen wurden. Philo will zwar in seinen Schriften nicht direkt Propaganda für das Judentum machen; aber es liegt auf der Hand, dass seine apologetischen Erörterungen über die Lehren und Vorschriften des jüdischen Gesetzes, deren religiöse und ethische Hoheit, deren humanen und erzieherischen Charakter er immer wieder zu betonen nicht müde wird, sehr wohl geeignet waren, die Proselyten in ihrem Bekenntnis zur jüdischen Lehre zu stärken und zu befestigen, aber auch aus den Reihen derer, denen der jüdische Glaube und das Leben nach dem jüdischen Gesetze nicht ganz fremd waren, neue Anhänger des Judentums zu gewinnen. Die apologetische Tendenz seiner Ausführungen tritt überall zutage. Bisweilen wenden sie sich ganz offen gegen die Angriffe und Beschuldigungen der Gegner des Judentums und der judenfeindlichen griechischen Schriftsteller. Sehr scharf weist er z. B. den Vorwurf zurück, dass das jüdische[317] Gesetz den Juden Absonderung und Menschenhass vorschreibe, unter Hinweis darauf, dass es im Gegenteil das jüdische Volk zur Milde und Freundlichkeit gegen jedermann, auch gegen Feinde, ermahne und ihm selbst Mitleid mit dem Vieh einpräge (§ 141). Besondere Beachtung verdienen die Bemerkungen über den sich für einen Gott haltenden Hochmütigen (§ 172 ff.), die in offenbarer Anspielung eine vorzügliche Charakteristik des Kaisers Gaius Caligula enthalten.

Im allgemeinen werden in unserem Buche nur solche Gesetzesvorschriften behandelt, die in den Büchern über die Einzelgesetze nicht erwähnt sind. Einige wenige, die dort bereits ausführlich erörtert sind, werden hier noch einmal kurz angeführt, um sie unter dem Gesichtspunkt der φιλανθρωπία in neues Licht zu rücken und eine entsprechende Begründung hinzuzufügen. So das Verbot, Geld auf Zins zu leihen (§ 82 ff.); das Gebot, dem Tagelöhner seinen Lohn an demselben Tage auszuzahlen (§ 88); die Bestimmungen über das Schemitta- und das Jobeljahr (§ 97 ff.); die Vorschrift, Rind und Esel nicht zusammenzuspannen (§ 146 f.). Berührungen mit der rabbinischen Exegese und Halacha finden sich hier verhältnismässig seltener als in den Büchern über die Einzelgesetze. Die ethische Begründung der Gesetzesvorschriften lehnt sich ebenso wie dort vielfach an die Lehren des Stoicismus an. Es ist aber kaum anzunehmen, dass der Begriff der Menschenliebe, der fast das ganze Buch beherrscht, in den Schriften der Stoiker, die Philo benutzen konnte, schon einen so weiten Raum einnahm wie beispielsweise bei Seneca, der in der Betonung des Humanitätsgedankens ebenso wie Philo über den Standpunkt der älteren Stoa hinausgeschritten zu sein scheint. Senecas Ausführungen erinnern oft auffallend an die Lehren, die Philo an der Hand der biblischen Vorschriften entwickelt. Aber eins fehlt Seneca, was bei Philo eine wichtige Rolle spielt, das ist das religiöse Moment: Philo betont die enge Zusammengehörigkeit der Menschenliebe mit der Frömmigkeit, mit der Liebe zu Gott; die wahre Gottesverehrung schliesst auch die allgemeine Menschenliebe in sich, und die Menschenliebe führt umgekehrt auch zur Frömmigkeit; andrerseits ist auch jede Kränkung und unmenschliche Behandlung des Nächsten zugleich ein Frevel gegen Gott. So zeigt sich Philo trotz der Anlehnung an Grundlehren der griechischen Philosophie als selbständiger Denker in der Verknüpfung dieser Lehren mit den auf der Bibel beruhenden jüdischen Vorstellungen von Frömmigkeit und Sittlichkeit. Zugleich gibt er in diesem Buche ganz besonders durch die starke Hervorhebung der allgemein menschlichen Züge der Mosaischen Gesetzgebung dem universalistischen Charakter des Judentums treffenden Ausdruck.


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