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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

in solcher Klarheit Mitleid selbst mit den Viehherden bekunden, und unser Volk durch die von frühester Jugend ihm gelehrten Gesetzesvorschriften gewöhnt wird alle Härte in den Gemütern in Milde umzuwandeln[1]. 142 Der Gesetzgeber übertrifft sich aber selbst noch als fruchtbarer Tugendlehrer und durch die Mannigfaltigkeit seiner herrlichen Unterweisungen: nachdem er nämlich geboten, das Junge der Mutter nicht zu entreissen, bevor es entwöhnt sei, weder Lamm noch Böckchen noch sonst eins von den Tieren in den Herden, und nachdem er dazu verordnet, dass man auch nicht an demselben Tage Mutter und Junges töten solle, fügt er noch folgende Vorschrift hinzu: „du sollst nicht kochen das Lamm in der Milch seiner Mutter“ (2 Mos. 23,19. 34,26. 5 Mos. 14,21). 143 Denn er hielt es für widersinnig, dass die Nahrung des lebenden (Tieres) als Würze und schmackhafte Zutat des getöteten dienen solle, und während die Natur in weiser Fürsorge für seine Erhaltung die Milch spende, die sie in den Brüsten der Mutter als Behältern fliessen lässt, die Unmässigkeit der Menschen so weit gehen solle, dass sie dieses Mittel zum Leben zur Verwendung der Ueberreste des Körpers (des geschlachteten Tieres) missbrauchen. 144 Wenn man also Fleisch in Milch kochen will, so soll man es nicht in roher Weise tun und nicht so, dass man sich einer Sünde schuldig macht. Giebt es doch zahllose Viehherden überall, und an jedem Tage werden sie gemolken von Kuh-, Ziegen- und Schafhirten, für die als Viehzüchter die grösste Einnahme die Milch ist, teils in flüssigem Zustande, teils geronnen und verdickt zu Käse. Darum verrät einer, der trotz des vorhandenen Ueberflusses das Fleisch von Lämmern oder jungen Ziegen in der Muttermilch kocht, eine schlimme und rohe Gemütsart, da ihm die unentbehrliche und einer vernünftigen Seele angeborene Empfindung des Erbarmens fehlt[2].


  1. Ebenso Josephus g. Ap. II § 213: οὕτως δ᾽ ἡμερότητα καὶ φιλανθρωπίαν ἡμᾶς ἐξεπαίδευσεν, ὡς μηδὲ τῶν ἀλόγων ζῴων ὀλιγωρεῖν.
  2. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass Philo das biblische Gebot buchstäblich auffasst, dass man nämlich das Fleisch eines jungen Tieres nicht in der Milch seiner Mutter kochen solle. Die (spätere) rabbinische Vorschrift, dass man Fleisch und Milch überhaupt nicht zusammen kochen und zusammen geniessen dürfe, war ihm offenbar unbekannt. Ritter S. 128.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/043&oldid=- (Version vom 1.8.2018)