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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

durch die Berufung Gottes, der die Tugend liebt und die Anhänger der Frömmigkeit mit selbständiger Macht ausstattet zum Heile ihrer Umgebung? 219 Dieser Mann ist ein Muster an Adel für alle Proselyten, die das von unnatürlichen Gebräuchen und frevelhaften Sitten herstammende unedle Wesen aufgegeben, nach welchen Stein und Holz und überhaupt unbeseelte Gegenstände göttliche Ehren erhalten, und dafür der wirklich beseelten, lebendigen Verfassung sich zugewendet haben, die von der Wahrheit geleitet und bewacht wird.

220 (6.) Solchen Adel haben nicht nur von Gott geliebte Männer, sondern auch Frauen zu erlangen gesucht, welche die ihnen anerzogene Unkenntnis vergassen, in der sie nur Göttern von Menschenhand Ehren erwiesen, und die Kenntnis der Lehre von der Alleinherrschaft (Gottes) sich aneigneten, durch die die Welt regiert wird. 221 Thamar war eine Frau aus dem syrischen Palästina, erzogen in einem Hause und in einer Stadt von Götzendienern, die mit Bildsäulen aus Holz und Stein und überhaupt mit Götterbildern angefüllt war. Als sie aber wie aus tiefem Dunkel einen kleinen Schein der Wahrheit zu sehen vermochte, wandte sie sich mit Todesgefahr zur Frömmigkeit und dachte gering vom Leben, wenn sie nicht ein schönes Leben führen könnte; das „schöne“ Leben bezog sie aber auf nichts anderes als auf die Verehrung und Anbetung des Einen, des Urgrundes (aller Dinge)[1]. 222 Obwohl sie nacheinander zwei Männer heiratete, die beide schlecht waren, den ersten als rechtmässigen Gatten, den zweiten nach dem Erbschaftsgesetz[2], weil der erste keine Nachkommenschaft hinterlassen hatte, bewahrte sie doch ihr eigenes Leben in voller Reinheit und war imstande den nur den Tüchtigen zukommenden guten Namen sich zu erwerben und für alle ihre Abkömmlinge der Ursprung ihres Adels zu werden. Aber sie war, wenn auch aus anderem Stamme, so doch eine Freie und die Tochter freier und vielleicht nicht unangesehener Eltern. 223 Als Dienerinnen


  1. Philo gibt hier eine stark idealisierte Auffassung der biblischen Erzählung von Thamar (1 Mos. 38,6 ff.).
  2. Philo gebraucht hier einen aus dem attischen Recht stammenden Ausdruck: ἐπιδικασία hiess der Anspruch auf eine Erbschaft, daher auch der Anspruch auf den Besitz einer alleinstehenden Erbin.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/063&oldid=- (Version vom 1.8.2018)