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Phänomen bildet, von dem jede Analyse des Bewußtseins ausgehen muß. Will man diesen Sachverhalt, der an sich freilich über die Grenzen des Mathematischen hinausgeht, mit einem mathematischen Gleichnis und Sinnbild verdeutlichen, so könnte man, im Gegensatz zur bloßen „Association“, den Ausdruck der „Integration“ wählen. Das Bewußtseinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein extensiver Teil zur Summe der Teile, sondern wie ein Differential zu seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese selbst ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitgegeben denken: – jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eigenen und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen, die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind. Alles „Dasein“ im Bewußtsein besteht eben darin und ist nur dadurch, daß es alsbald in solchen verschiedenartigen Richtungen der Synthesis über sich hinausgeht. Wie das Bewußtsein des Augenblicks schon den Hinweis auf die Zeitreihe, das Bewußtsein einer einzelnen räumlichen Stelle schon den Hinweis auf „den“ Raum als Inbegriff und Allheit der möglichen Lagebestimmungen in sich schließt, so waltet allgemein eine Fülle von Beziehungen, durch welche im Bewußtsein des Einzelnen zugleich die Form des Ganzen ausgedrückt ist. Nicht aus der Summe seiner sinnlichen Elemente (a, b, c, d …), sondern gleichsam aus der Gesamtheit seiner Beziehungs- und Formdifferentiale (dr1, dr2, dr3, …) baut sich das „Integral“ des Bewußtseins auf. Die volle Aktualität des Bewußtseins bringt nur das zur Entfaltung, was der „Potenz“ und der allgemeinen Möglichkeit nach schon in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt. Damit erst ist die allgemeinste kritische Lösung für jene Frage Kants erreicht, wie es zu denken sei, daß weil „etwas“ ist, dadurch zugleich ein „Anderes“, von ihm völlig Verschiedenes sein müsse. Das Verhältnis, das, vom Standpunkt des absoluten Seins betrachtet, um so paradoxer erscheinen mußte, je schärfer es betrachtet und analysiert wurde, ist das notwendige, das aus sich unmittelbar verständliche, wenn es vom Standpunkt des Bewußtseins gesehen wird. Denn hier gibt es von Anfang an kein abstraktes „Eines“, dem in gleich abstrakter Sonderung und Loslösung ein „Anderes“ gegenübersteht, sondern das Eine ist hier „im“ Vielen, wie das Viele „im“ Einen ist: in dem Sinne, daß beide sich wechselseitig bedingen und sich wechselseitig repräsentieren.

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/56&oldid=- (Version vom 20.8.2021)