Die bisherigen Erwägungen gingen darauf aus, eine Art erkenntniskritischer „Deduktion“, eine Begründung und Rechtfertigung des Begriffs der Repräsentation zu geben, sofern die Repräsentation, die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst und als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden sollte. Aber nicht auf diese allgemeinste logische Bedeutung der repräsentativen Funktion sind die folgenden Betrachtungen gerichtet. In ihnen soll das Problem des Zeichens nicht nach rückwärts in seine letzten „Gründe“, sondern nach vorwärts in die konkrete Entfaltung und Ausgestaltung, die es in der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kulturgebiete erfährt, verfolgt werden. Für diese Betrachtung ist jetzt ein neues Fundament gewonnen. Auf die „natürliche“ Symbolik, auf jene Darstellung des Bewußtseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik, wenn wir die „willkürlichen“ Zeichen begreifen wollen, die sich das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft. Die Kraft und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. Daß ein sinnlich-Einzelnes, wie es z. B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein geistigen Bedeutung werden kann – dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird. Weil jeder Sonderinhalt des Bewußtseins in einem Netzwerk mannigfacher Beziehungen steht, kraft deren er, in seinem einfachen Sein und seiner Selbstdarstellung, zugleich den Hinweis auf andere und wieder andere Inhalte in sich schließt, kann und muß es auch bestimmte Gebilde des Bewußtseins geben, in denen diese reine Form des Hinweisens sich gleichsam sinnlich verkörpert. Daraus ergibt sich sofort die eigentümliche Doppelnatur dieser Gebilde: ihre Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt. In jedem sprachlichen „Zeichen“, in jedem mythischen oder künstlerischen „Bild“ erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder Tastbaren umgesetzt. Es tritt eine selbständige Gestaltungsweise,
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/57&oldid=- (Version vom 20.8.2021)