Die alten Deutschen hatten keine Priester und namentlich keine Druiden. Aber sie hatten weise Frauen, welche in weißen leinenen Gewändern sich dem Volke in Krieg und Frieden als Seherinnen voll hoher Begeisterung zeigten. Die berühmteste derselben war Velleda, welche ihr Leben in der Nähe des Rheinstromes zugebracht haben mag. Zu einer in der That für die Römer nicht gefahrlosen Zeit weissagte sie den Untergang des römischen Reiches. Damals brannte nicht allein das Kapitolium ab, sondern es waren auch große Kämpfe gegen die Römer entstanden. Die von ihnen erfochtenen Siege führten so große Umwälzungen herbei, daß eine vollständige Auflösung aller Verhältnisse der alten Geschichte und die Neubildung der mittelalterlichen Zustände unter Anführung der Germanen, der Landsleute jener erhabenen Prophetin, doch zuletzt daraus folgte. Am großartigsten verlief den noch immer siegreichen Römern gegenüber der Kampf um den Tempel zu Jerusalem. Schon loderte er in Flammen, als der nachmalige Kaiser Titus noch das Allerheiligste betrat. Gern hätte er den Tempel gerettet. Einer tapferen Schaar, die sich noch immer auf der Höhe von Zion hielt, ließ er Schonung anbieten. Aber die Juden antworteten, sie hätten geschworen, daß sie sich niemals ergeben wollten. Wolle Titus ihnen freien Abzug gewähren, so würden sie sich mit Weib und Kind nach der Wüste begeben. Dort würden sie das unabhängige Leben erneuern, welches ihre Vorfahren vor der Eroberung des Jordanlandes geführt hätten. Als Titus in Folge dieser Antwort den Angriff
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/37&oldid=- (Version vom 1.8.2018)