„Ja. Aber was haben Sie seit Sonnabend getrieben?“
„Ich war in einem Zustand, in dem man nicht einmal von sich selbst etwas weiß! Es ist eine Schwäche, die mich oft befällt, und gegen die kein Mittel hilft,“ flüsterte sie traurig.
„Ja, auch an mir haben in dieser Zeit Langeweile und Apathie genagt. Ich ging nicht aus, habe niemanden gesehen und auch nicht gearbeitet. Ich war ganz zerrüttet, ich zitterte fortwährend vor Unruhe und war jeden Augenblick auf irgendein Unglück gefaßt. Ähnliches müssen Bäume empfinden, ehe sie ein Blitzstrahl trifft. Ein scheußlicher Zustand!“
„Und geht es Ihnen jetzt besser?“ Sie preßte seine Hand und schaute ihm so tief und so nah in die Augen, daß er unwillkürlich zurückwich.
„Nein, nein!“ verneinte er lebhaft. „Vielleicht ist das Klima schuld daran? Es regnet doch fortwährend, es ist kalt, neblig, zum Verzweifeln! Ja, vielleicht ist die Sonne erloschen, und ich werde nie mehr Helligkeit sehen, nie mehr Wärme empfinden, nie mehr …“
„Die Sehnsucht nach der Sonne.“
„Ich werde aufs Festland reisen, ich muß, denn länger kann ich diesen Zustand nicht ertragen. Ich will weiß Gott wohin fliehen.“ Er brach plötzlich ab, er schämte sich seiner Gereiztheit.
„Im Süden ist’s schon längst Frühling …“
„Was geht es uns an!“ rief er mürrisch, denn er hatte nicht empfunden, wie einschmeichelnd und sehnsüchtig ihre Stimme klang.
Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/276&oldid=- (Version vom 1.8.2018)