freie Luft einatmen mußte, um singen zu können, um den vielen Gefühlen, die er unbewußt während der jugendlichen Jahre in der Ukraine empfangen hatte, Ausdruck und volkstümliche Töne zu geben. Er gesteht weiter, daß die ukrainische Muse längere Zeit Widerstand leistete, d. h. daß er die poetische Form nur allmählich beherrschen konnte. Schließlich geht aus seinen Worten hervor, daß er nur spärliche Versuche gemacht hatte vor seinem öffentlichen Hervortreten.
Bekanntlich war er anfangs für den künstlerischen Beruf bestimmt, weshalb er auch in die Lehrschule der kaiserlichen Kunstakademie aufgenommen wurde. Hier vollzog sich aber in seinem Innern eine sonderbare Wandlung, von der er in seinem Tagebuch 1856 schreibt:
„Was tat ich und womit befaßte ich mich in der heiligen Werkstatt Brüllows? Seltsam klingt es, – ich beschäftigte mich mit dem Schreiben ukrainischer Verse, die späterhin mit einem so schrecklichen Gewicht auf meine arme Seele fallen sollten. Vor den Meisterwerken Brüllows verfiel ich in Nachdenken und hegte im Herzen den ‚blinden Kobsar‘ und meine grimmigen ‚Hajdamaken‘. Im Schatten seines wundervollen Ateliers schwankten vor meinem Blick, wie an einem glühend heißen Tage in der Steppe am Dnipró, die bleichen Märtyrerschatten unsrer armen Hetmane. Vor mir breitete sich die mit Grabeshügeln besäte Steppe aus. Meine wunderliebe, meine arme Ukraine prangte in ihrer ganzen unberührten melancholischen Schönheit. Ich kam nicht aus dem Sinnen heraus; ich fand nicht die Kraft, mein geistiges Auge vor dem Zauberbild heimatlicher Reize abzuwenden. Es war Berufung und nichts andres … Ein seltsam Ding, diese allmächtige Berufung! Ich wußte nur zu gut, daß die Malerei meine künftige Profession, mein tägliches Brot bedeuten werde. Und statt aus ihren tiefen Geheimnissen zu schöpfen, noch dazu unter Anleitung eines Lehrers, wie der unsterbliche Brüllow es war, verfaßte ich Verse, für die man mir nicht nur keine Kopeke gab, sondern derentwegen man mich sogar der Freiheit beraubte und an denen insgeheim weiter zu schreiben
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/80&oldid=- (Version vom 30.7.2020)