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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 27. Dezember 1859

 Liebe Ida, einen schönen Gruß von Doris Braun an Dich. Sie sitzt nämlich gerade neben mir im „Familienzimmer“. Ein Familienzimmer, denk Dir, ist am Weihnachtsabend unter uns geboren und uns allen, Diakonissen und Schülerinnen, ist die Weisung gegeben worden, eine Familie zu bilden und uns lieb zu haben wie Familienglieder; weil aber Anstalt und Familie nie zu vereinigende Widersprüche sind, eine Familie in einer Anstalt etwas Unnatürliches ist, so sollen wir das Unnatürliche zum Übernatürlichen verklären. Das war der Gedanke, in welchem sich die fingerslange (selbsteigener Ausdruck) Rede von Herrn Pfarrer am heiligen Abend gipfelte und zu welchem sich der Hauptgedanke, der unsere Augen nach Bethlehem zu der heiligen Familie richtete, wie eine Art von Vorbereitung verhielt. Du merkst wohl, daß das „Familienzimmer“ mit einiger Ironie Schlagwort im Diakonissenhaus geworden ist, und um dies zu charakterisieren, nenne ich’s so oft gleich im Anfang meines Briefes; es dient aber zugleich als Eingang zu meiner Festbeschreibung, aus welchem sich diese entwickeln kann: das Familienzimmer ist ja herausgeboren aus unserm bisherigen Betsaal, der demnach schon durch einen andern ersetzt sein muß. Das ist auch so: das Diakonissenhaus hat sein schönstes und liebstes Weihnachtsgeschenk in seinem neuen Betsaal bekommen, der, obwohl noch nicht ganz fertig, doch am heiligen Christtag zum erstenmal benützt werden konnte. Ach, es war schön, als wir feierlich von unserm bisherigen Betsaal, in dem wir so viel Gotteswort gehört, so viel Wohltat genossen, Abschied nahmen, singend und betend, und dann in geordnetem Zug zum neuen Bethaus wanderten, aus dem uns reicher Lichterglanz entgegenstrahlte. Der Chor ist wahrhaft himmlisch: die Decke ist mit einem zarten Blau bemalt, die Wände mit ebenso zartem Lila; in der Mitte steht vorderhand noch unser alter Altar, nicht an die Wand angerückt, so daß hinter denselben unser verdienstvoller Herr Neupert einen ganzen Blumengarten aufpflanzen konnte. „Friede sei mit diesem Haus“, das war das erste Wort, welches im Saale erschallte, der so akustisch gebaut ist, daß alles Sprechen und Singen doppelt schöner klingt als im alten Betsaal... Von einem kleinen

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/102&oldid=- (Version vom 10.11.2016)