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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 18. November 1855

 Beste Ida, ich muß Dir gleich zum Anfang meines Briefes schreiben, daß ich nun völlig eingewöhnt bin und mich überaus glücklich hier fühle. Du mußt nicht über mich lachen, weil ich Dir im vorigen Briefe viel von Heimweh geschrieben und nun ein von Freude überströmendes Herz gegen Dich ausschütte. Wenn ich nicht zurückhaltend sein will, so muß ich so schreiben. Ich halte dies fast für eine Widerlegung dessen, was Herr Pfarrer letzthin von meinem Charakter gesagt, nämlich, daß ein Stück Phlegma in mir steckt. – Nun habe ich Herrn Pfarrer genannt, und da weiß ich nicht, wo anfangen und wo aufhören, Dir zu erzählen. Seine Stunden sind gewiß einzig in ihrer Art. Diese Einfachheit mit so viel Tiefe verbunden! Die gewöhnlichsten Sachen lernt man da von einer ganz andern Seite ansehen. Letzthin z. B. hatten wir einfach das Abc, und in der folgenden Stunde lehrte uns Herr Pfarrer das Lesen; aber das waren köstliche Stunden. Denke Dir, ich habe von Herrn Pfarrer den Auftrag bekommen, ein Tagebuch über seine Stunden zu führen. Da habe ich freilich ein gutes Stück Arbeit mehr, da ich für mich auch alles schreiben möchte, doch freue ich mich auch sehr darüber.

 Heute vor acht Tagen predigte Herr Pfarrer zum ersten Male wieder, aber nur nachmittags, wo die Hochzeit unseres Hausmeisters Wegmann war; heute predigte er auch vormittags über die Epistel. Ich habe mir die Predigt aufgeschrieben und bin recht froh, heute die Nachtwache zu haben; denn außerdem würde es ziemlich schwer gehen sie abzuschreiben. Ach, das war ein schöner, reicher Sonntag heute, und ein hoher Genuß ist uns für den Abend noch vorbehalten: Herr Pfarrer wird nämlich heute zum ersten Male wieder Seelsorgestunde halten, die die Krone aller übrigen Stunden sein soll.

 Du hast mich gebeten, etwas tagebuchartig über mein Tun und Treiben zu schreiben. Ich glaubte dies schon, so weit es damals ging, in meinem vorigen Briefe getan zu haben; doch will ich gerne einiges hinzufügen. Vor allem, daß ich einen Kurs zum Unterricht in der französischen Sprache bekommen habe. Morgen von 5–6 Uhr habe ich die erste Stunde. Herr

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/26&oldid=- (Version vom 17.10.2016)