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An ihren Bruder Adolf.
Neuendettelsau, den 11. Dezember 1855

 Liebster Bruder, schon lange wollte ich Dir schreiben, allein bis heute bin ich immer daran verhindert worden. Allein ich kann nichts von mir und meiner Umgebung schreiben, ehe ich meine innige, herzliche Freude gegen Dich ausgesprochen habe über das frohe Ereignis Deiner Verlobung, zu dem ich Dir meinen aufrichtigen Glückwunsch bringe.... Grüße Fräulein Lina Brandt recht herzlich von mir.

 ...Ich habe mich sehr leicht in die neue Umgebung gefunden, und die hiesige Lebensweise sagt mir vortrefflich zu. ...Seit ein paar Tagen haben wir die biblische Geschichte angefangen. Da bekommen wir alle Tage ein Pensum auf, das wir zusammen lesen. Bis Ostern sollen wir mit dem Alten Testament fertig werden.

 Ich will Dir einmal einen Tag Stunde für Stunde beschreiben und will dazu den Freitag nehmen. Wir stehen gewöhnlich erst um sechs Uhr auf. Bald darauf schellt es zum Gebet, wobei immer zuvor einige Verse gesungen werden; dann wird gefrühstückt. Nach dem Frühstück verrichtet man einige Hausarbeiten, und dann gehts zur Kirche. Mit dem neuen Kirchenjahr hat Herr Pfarrer angefangen, sich ganz nach den Lektionen der Alten zu richten; da hatten wir das erstemal das 6., dann das 7. und heute das 19. Kapitel des Jesajas. Nach der Kirche hat der neue Kurs ärztlichen Unterricht von Herrn Dr. Schilffarth, und von 11–12 Uhr ist Singstunde. Beim Mittagessen ist Herr Pfarrer immer zugegen und bleibt bis gegen Abend. Nach Tisch geht er in den Betsaal und bleibt da, bis seine Stunde beginnt, während dieser Zeit kann jedes, das mit ihm zu sprechen wünscht, zu ihm kommen. Uns aber ruft die Glocke um 1 Uhr zur Nähstunde. Da kann ich Fräulein Rheineck auch manchmal ein wenig helfen. Um 3 Uhr ist Stunde von Herrn Pfarrer. Da möchte ich Dir wohl recht viel erzählen, allein ich wüßte nicht, wo anfangen und wo aufhören. Ich werde Dir einmal meine Hefte schicken. Von 4–5 Uhr haben bloß diejenigen Stunde, die das Mittelhochdeutsche lernen wollen. Herr Pfarrer hat uns die Grammatik kurz und übersichtlich diktiert, und nächste Woche werden wir

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/30&oldid=- (Version vom 17.10.2016)