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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 9. November 1856

 Liebste Mutter, der Friede Gottes sei mit Ihnen! Sie werden schon erfahren haben, daß wir heute vor acht Tagen gottlob ganz glücklich angekommen sind. Ich konnte mit Pächtners bis Merkendorf fahren, von wo aus wir vollends zu Fuß nach Neuendettelsau gingen. Die erste bekannte Person, die wir auf dem heimatlichen Boden sahen, war – unser lieber Herr Pfarrer, der mit Herrn von Pechlin von Wernsbach zurückging, wo er Beichtvesper gehalten hatte.

 Die Freude des Wiedersehens nach der „langen“ Trennung war sehr groß. Ich brauche Sie wohl nicht erst zu versichern, daß es keines Eingewöhnens hier mehr bedurfte und kein Heimweh zu überwinden war. O es ist hier so schön, so schön! Der neue Kurs bringt uns wieder viel Neues zu lernen und damit viel neue Freuden. Diese ganze Woche ging mit Ordnen der Stunden, Einteilung der Riegen, der Plätze etc. vorüber. In unserer Kleinen Schule ist noch nicht alles geordnet; es kostet dies immer viel Zeit und Mühe, besonders ist die Einteilung der Klassen wegen der großen Verschiedenheit der Vorbildung sehr schwierig. Unter den neuen Unterrichtsgegenständen sind namentlich ein paar, über die ich mich unendlich freue. Denken Sie nur, einige von uns dürfen – Griechisch lernen! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, mit welcher Begierde ich nach diesen Stunden verlange. Herr Pfarrer gibt uns diesen Unterricht auf Wunsch der Frau Liesching. Noch ein sehnlicher Wunsch geht mir in Erfüllung, indem wir Stenographie lernen dürfen. Auch kehren die von mir so sehr geliebten mittelhochdeutschen Stunden wieder. Herr Pfarrer hat ein Lehrmittel dazu herausgegeben, das er noch einmal mit uns Lehrerinnen durchgehen will, damit es eine von uns bei den Kindern lehren könne. Doch sind dies alles nur Nebengegenstände. Der Hauptunterricht Herrn Pfarrers, den er von 4–1/27 Uhr gibt, wird zuerst von der Gottesdienstordnung des Diakonissenhauses handeln, dann wird, weil sich das Bedürfnis dazu gezeigt hat, Katechismusunterricht gegeben werden, dann ein Unterricht über den heiligen Ort, die heiligen Geräte etc. Gestern Abend verhörte unser lieber Herr Pfarrer den Katechismus. Das war lieblich zu hören, wie unsere alten Diakonissen das aufsagten, was man gewöhnlich nur

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/53&oldid=- (Version vom 24.10.2016)