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Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.
Von
Heinrich von Kleist.
An R. v. L.[1]

Wenn Du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rathe ich Dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest, nein! Vielmehr sollst Du es ihm selber allererst erzählen.

Ich sehe Dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe Dir in früheren Jahren den Rath gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die Du bereits verstehst. Damals aber sprachst Du wahrscheinlich mit dem Vorwitz,[2] Andere, – ich will, daß Du aus der verständigen Absicht sprechest: Dich zu belehren, und so könnten, für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut neben einander bestehen. Der Franzose sagt: l’appétit vient en mangeant[3], und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodirt, und sagt: l’idée vient en parlant.[4]

Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Acten, und erforsche in einer verwickelten Streitsache den Gesichtspunkt, aus welchem sie wol zu beurtheilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich in’s Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester[5] davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir im eigentlichen Sinne sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler[6] oder Kästner[7] studirt. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem

  1. Rühle von Lilienstern (1780–1847), preußischer Generalleutnant und Militärschriftsteller, seit 1795, der gemeinsamen Militärzeit mit Kleist befreundet.
  2. im Sinne von: „Absicht“
  3. „Der Appetit kommt beim Essen“ – ein Zitat aus François Rabelais Gargantua und Pantagruel, I, 5.
  4. „Der Gedanke kommt beim Reden“
  5. Der Bezug auf die Anwesenheit der Schwester Ulrike in Königsberg macht die Datierung des Aufsatzes auf 1806 wahrscheinlich.
  6. Leonhard Euler (1707–1783), Mathematiker
  7. Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800), Mathematiker