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wenig hier am richtigen Platze, daß man unwillkürlich eine Spalte sucht, wodurch das Wasser zum Wansee abfließen kann.

Tadwan, ein kleines armenisches Dorf, ist ganz nahe an dem See erbaut; gegen Süden erhebt sich über ihm ein felsiges Vorgebirge, das ehedem eine Festung trug. Leider war der Himmel bewölkt; bei klarem Wetter muß sich gerade von diesem Vorgebirge eine herrliche Fernsicht bieten, die den größten Teil des Wansees umfaßt, dessen Ufer hier konvergieren,[1] dann aber auch sich auf die beiden Riesen oder – die Bezeichnung ist treffend – die Väter des Sees erstreckt, auf den Nimrud und den Sipan.

Einige Minuten von dem Dorfe entfernt liegt unter Ulmen versteckt ein alter armenischer Kirchhof. Dem Anscheine nach besteht zwischen den hier ruhenden Generationen und der, die augenblicklich in den armseligen Hütten des Weilers ihr klägliches Dasein fristet, kein verwandtschaftliches Verhältnis; denn der Kirchhof wird gleichsam als ein unheilvoller Ort von der Bevölkerung gemieden. Um so mehr macht aber die Natur hier ihre Rechte geltend, und die Ulmen bringen einen Grabstein nach dem andern zum Falle, indem sie ihre Wurzeln zwischen die Gräber weiter ausdehnen. Dieser Friedhof muß sehr alt sein; denn die Kreuze und Sarkophage besitzen ein Aussehen, das uns bis jetzt noch nirgendwo begegnet ist.

Unsere Wohnung in Tadwan.

Das Wetter taute auf, und infolgedessen wurden die Straßen Tadwans in ekelhafte Schlammlöcher verwandelt. Was unsere Wohnung betrifft, so reproduziert sie den unveränderlichen Typus eines bewohnbaren Pferdestalles. Eine Bank, die an hölzerne „Säulen“ angelehnt ist, welche das Dach tragen, grenzt das „Haus“ ab, während die Rückenlehne der Bank das „Haus“ von dem Pferdestalle trennt. An diese Rückenlehne werden die Tiere an gebunden. Wenn es ihnen um eine Unterhaltung mit ihren Herren zu thun ist, brauchen sie bloß den Kopf zwischen den ziemlich weit von einander entfernten Querstäben der Rückenlehne durchzustrecken. Mein Pferd Dschamusch schien sehr begierig nach Unterhaltung zu sein; freilich war das Hauptmotiv seine unersättliche Feinschmeckerei; so erfaßte es auch hier alles, was ihm unter die Zähne fiel, und bald ertappte ich es, wie es sich über mein Feldbett hergemacht hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/243&oldid=- (Version vom 1.8.2018)
  1. In Tadwan trennen sich: Der Weg von Bitlis nach Wan, der südlich um den See herumgeht, und der Weg von Bitlis nach Wan nördlich um den See. Dieser letztere hat allein Ruinen von Karawansereien bewahrt. Zur Zeit Taverniers ging die Reise immer über Tadwan, Akhlat, Ardschisch, so daß Tavernier keinen andern Weg zu kennen scheint, auf dem man Wan erreichen kann, da er sechs Tagereisen von Tadwan nach Wan rechnet, (wahrscheinlich wenn man sich in Ardschisch einschiffte, um den Weg um den See von Ardschisch herum zu ersparen). Vergleiche Tavernier L. III. c. 3.