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eine Art von Pfad, aber im allgemeinen war es bloß eine Fährte inmitten der Felsen. Es ist unmöglich, diese Tour allein zu Pferde zu machen.

Die Vegetation ist immer noch aus isolierten Sträuchern zusammengesetzt; die am meisten vorkommende Art ist die kurdische Eiche (Quercus oophora), deren Blätter denen der Kastanien gleichen. Die Eicheln sind sehr groß. Ich habe eine gemessen: die Länge betrug 55 Millimeter und die Dicke 35 Millimeter. Man erzählt, daß die Kurden, die den Eicheln den Namen Hakraari geben, dieselben mit Sorgfalt sammeln und im Winter anstatt Brot verzehren.[1]

Der Pfad wird hier häufig gebraucht. Der anfänglich bedeckte Himmel klärte sich immer mehr auf, und von unserer Höhe aus genossen wir jetzt die erste, wunderbare Aussicht auf die Ebene von Mesopotamien; wir gewahrten an dem in die Sonne getauchten Horizont, der sich mit dem Himmel vereinigt, ein blaues Meer: die Wüste. Zu unseren Füßen hatten wir noch den letzten beträchtlichen Teil unseres Abstieges, während die ersten Stufen der Berge, welche die Wüste mit den wilden Schluchten des Tigris verbinden, sich in der Ferne in lange Hügelwellen verlieren.

Am Ende unseres Abstiege fand sich eine große Grotte, die, wenn sie nicht von Menschenhand ausgehöhlt wurde, doch davon einige Verbesserungen erhalten hat. Der Weg führte um mehrere Thäler herum, wo die Vegetation der Gebirge schon seltener zu werden anfängt. Bei einer Biegung des Weges konnten wir uns nicht enthalten, einen Schrei der Verwunderung abzustoßen. In ein vor rauhen Winden geschütztes, kleines Thal schleicht sich der Pfad ganz unmerklich durch dichte Oleandergebüsche; ein klarer Bach durchfließt das Thal in kleinen Wasserfällen, die im Sonnenlicht gar herrlich funkeln; in dem Gehölz verbirgt sich der Bogen einer ruinierten Brücke. Es war dieser Vorgeschmack des Südens eine gar köstliche Überraschung von wirklich poetischem Zauber für uns.

Der Charakter der Vegetation wechselt vollständig; der Lorbeerbaum kommt in den Thälern im Überfluß vor, während die Berge nackt stehen.

Bald erreicht der Pfad den Tigris wieder, der, hier nicht mehr in ein so enges Bett eingezwängt, viel langsamer fließt. Wir fragten unsern alten Zabtieh, wie weit wir noch bis Dschesireh hätten. Er antwortete: Iki butschuk saat – zwei und eine halbe Stunde. Diese Antwort hört man in jenen Gegenden sehr häufig, aber man muß sie übersetzen können; sie heißt nämlich auf deutsch: Ich weiß es nicht.

Eine Stunde später fragten wir wieder einen Mann nach derselben Entfernung; er bedeutete uns, daß es wohl noch eines Marsches von vier Stunden bedürfe, um dorthin zu kommen. Bloß ein Kurde gab uns auf unsere Frage eine vernünftige Antwort: „Ich habe keine Uhr,“ sagte er, „wie kann ich denn aber eine Entfernung nach Stunden angeben?“

Finnik liegt sehr schön an dem Ufer des Tigris in einer recht fruchtbaren Gegend; sehr beträchtliche Ruinen scheinen anzudeuten, daß es ehemals eine Stadt war. Ainsworth glaubte, in diesen Ruinen die von Ammianus Marcellinus erwähnten Ruinen der alten Stadt Phoenica zu erkennen.[2]

  1. Deyrolle, „Tour du MondeXXXI, 375.
  2. Ainsworth, II. 348. Ritter in seiner Erdkunde XI. 122 richtet sich nach Ainsworth.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/270&oldid=- (Version vom 1.8.2018)