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Die türkische Regierung hat allerdings in den letzten hundert Jahren zuweilen versucht, gegen diese Zustände vorzugehen; aber der Fanatismus auf der einen Seite und auf der andern Seite die unheilbare Schwäche der Regierung und der Mangel an Ausdauer haben die Reformen gewöhnlich aufgehalten. Jedesmal war ein großer Weg zurückgelegt worden; aber unter den Greisen findet man heutzutage noch viele, welche die schlimmsten Tage in jener Unterdrückungszeit durchgemacht haben.

Braucht man da zu erstaunen, daß man so häufig im Orient solchen Charakterzügen begegnet, an denen wir Anstoß nehmen? Oft wirft man den Christen des Orients Lügenhaftigkeit, Verstellung, Furcht und selbst Feigheit vor, sowie Unehrlichkeit in Geldsachen und Gewandtheit im Erfinden von Ausreden. Diese Fehler finden sich leider in allen Klassen der Gesellschaft; man findet den schlagendsten Beweis der Unehrlichkeit bei dieser oder jener Persönlichkeit, die leicht zu nennen ist, und die doch durch ihren Charakter und ihre Stellung über eine solche Gemeinheit erhaben sein sollte. Dieses ist wahr und auch zugleich traurig. Aber hier geht es wie eben überall; das Böse wird gesehen, und das Gute bleibt unbemerkt. Die schlechten Wandlungen greifen wir auf und gehen unachtsam vorbei an Persönlichkeiten, die feststehen in einer so ungünstigen Umgebung, und an manchem Leben von Ergebenheit und Jugend. Und dann muß noch einmal bemerkt werden, wenn die Verfolgung Martyrer macht und die Charaktere erhebt und veredelt, so bricht und erniedrigt das politische Regime dieselben, wenn es Prias bildet.

Der Orientale hat seit Jahrhunderten seine soziale Würde eingebüßt, seine persönliche Würde ist während Jahrhunderte mit Füßen getreten worden und ist dadurch geknickt und vermindert. Er wird sich vielleicht unter dem Einflusse der Freiheit wieder erheben, aber die seiner menschlichen Würde geschlagenen Wunden erfordern eine lange Zeit zur Heilung.

Diese sind auch am schwierigsten zu behandeln, und die Abendländer, welche sich damit beschäftigen, wissen dies auch ganz gut. Ich spreche nicht von denen, die der Religion den Fehdehandschuh hingeworfen haben und dem Oriente aufhelfen wollen, wie sie es auch im Occidente zu thun beabsichtigen! Diese wollen das Abendland in den Schmutz ziehen; welches Los werden sie dann dem Morgenlande bereiten?

Ich will von denen reden, die von der Religion begeistert werden – sei es, daß sie in der streng sozialen Richtung arbeiten: diese sind leider selten – sei es, daß sie sich besonders der religiösen Richtung widmen. Das größte Hindernis, das diesem abendländischen Arbeiter begegnet ist, auch zugleich das am wenigsten faßbare, da es psychologisch begründet ist: es ist der Hochmut.

Der Hochmut wagt sich an beide Parteien. Der Abendländer, wenn er nicht stets mit sich selbst kämpft, entgeht kaum dem Hochmut einer Vergleichung. Er fühlt seinen höheren Stand und ist gezwungen, sich zusammenzunehmen, um eben seine Überlegenheit nicht merken zu lassen; instinktiv identifiziert er die Zivilisation mit dem Abendlande. Er wird[WS 1] nicht sagen: ein zivilisirter Mensch muß so und so handeln, sondern er wird sagen: ein Europäer würde so handeln.

Dieser Hochmut findet sich wieder bei dem Orientalen unter der Form der Eitelkeit. Die Bedrückungen, deren er so viele erduldet hat, haben in ihm viele Charakterzüge eines Kindes entwickelt, und einer dieser besteht darin, der Anerkennung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wir
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/306&oldid=- (Version vom 1.8.2018)