Seite:Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen.pdf/372

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

außerhalb des Bereiches der Araber zu bringen. Heute noch trägt der Khalifah die Spuren der Kugeln. Aber England war nicht so ganz mit diesem Überfall zufrieden, und die Sache schien für den Scheikh schlimm zu werden, der flüchten mußte. Die Türkei ließ ihn „sorgfältig“ verfolgen und auf dem Gebiete des Scheikh einige Forts errichten. Sechs Monate lang wurden die Schiffe von einem Kanonenboot begleitet.

Übrigens hatte der Scheikh gut gerechnet. Er wurde zwar in contamaciam verurteilt, und England verlangte seine Auslieferung; aber um Englands Verlangen zu erfüllen, mußte man den Scheikh doch zuerst ergreifen, und dies war nicht möglich. Er hielt sich zwar nur eine Stunde von Amara verborgen, wo er in seinem Schlupfwinkel sogar die Besuche der türkischen Beamten erhielt. Nach einer gewissen Zeit wurde Sayhud als unfindbar erklärt und von der Sache nicht mehr weiter gesprochen. Aber die türkische Regierung hatte eine Lektion erhalten. Einige Monate später erhielt der Sohn des Scheikh zum Geschenk ein großes Terrain, das er jetzt nutzbar macht; sein Bruder Uadi, ein sehr reicher Mann, wurde zum Scheikh eines bedeutenden Gebietes ernannt, das Amara gerade gegenüber liegt. Sayhud selbst, der noch eine Zeit lang einige Vorsicht gebrauchte, wurde noch einflußreicher als früher.

Die Türkei ist somit an ihrem Ruine angelangt: der „kranke Mann“ ist mehr als je dem Sterben nahe, ja er ist bereits tot; aber zu viel Erben streiten um den Vortritt bei dem Begräbnis. Dadurch, daß man abwartet, ob sich die einzelnen nicht darüber einigen werden, ist man wieder dazu gekommen, den kranken oder toten Mann als noch lebend zu betrachten.

Bloß die Schwierigkeiten, die bei dem Teilen der Türkei entstehen können, sind im stande, Europa zu entschuldigen, daß es so lange einen so beklagenswerten Zustand bestehen läßt.

Der Löwenanteil an der türkischen Erbschaft wird leider Rußland zufallen, das auf die türkische Schwäche und Ohnmacht einen allgemeinen, geregelten Despotismus folgen lassen wird. Von diesen beiden einander ausschließenden Zuständen weiß man nicht, welchen man wählen soll. Mag die Türkei auch tyrannisch verfahren in materieller Hinsicht, so läßt sie sich doch heute nicht mehr einfallen, einen Druck auf das Gewissen und die religiöse Überzeugung auszuüben, und gerade diese Freiheit in religiösen Dingen ist so kostbar, daß man sie höchst ungern gegen ein strengeres Regime vertauschen würde, wo sie verschwinden müßte.[1]

2. Februar.

Die „Arabia“ hat langsam die Ladung eingenommen; wir verabschiedeten uns von Asfar und seiner liebenswürdigen Familie und fuhren langsam den Schatt-el-Arab hinab, dessen beide Ufer mit großen Palmenwäldern eingefaßt sind.

Bei der Mündung des Karun warfen wir Anker, um noch sechzig Tonnen Datteln mitzunehmen.

  1. In diesem Punkte scheint der „kranke Mann“ aber seine Ansicht etwas geändert zu haben, wie die jüngst erfolgten Schandtaten in Armenien beweisen; oder sollte er daran unschuldig sein? Vergl. S. 280 ff. (Anmerkung des Übersetzers.)
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/372&oldid=- (Version vom 1.8.2018)