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Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.

Die Witwe am Bette ihres Sohnes

Mit meinem verflackernden Lichte
Besuche ich, Kind, deinen Traum.
Im Schlaf erstaunt dein Gesichte,
Doch faltet dein Atem sich kaum.

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Daß du mich gestern verstießest,

Hat nimmer dich bitter gemacht.
Daß du mich alleine ließest
Die ängstliche Mitternacht.

Und doch. Ich will dich bewegen

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Zu Leben und nächtlichem Mut.

Dein mächtiges Treiben und Regen
Durchläuft meinen Schatten mit Blut.

O Sohn! Dein Zechen und Speisen
Nährt deine Mutter, ich weiß.

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Dein Lärmen und Becherkreisen

Bewegt meinen Lebenskreis.

Und wenn ich sitze und sticke,
Dies Leben ist in dich entrückt,
Aus meinem vergehenden Blicke

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In deine Augen gezückt.


Wie ich dich bebend getragen
Im heilig erkannten Schoß,
Du wuchsest an bildenden Tagen
Und schmerztest und wurdest groß.

Empfohlene Zitierweise:
Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Werfel_Wir_sind_1913.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)