Ich höre bereits die Antwort auf diesen Einwand. Sie lautet meist: wir wollen gar nicht Rücksicht nehmen auf die spätere Verwendung des jungen Mannes, sondern uns liegt es ob, aus ihm eine harmonische Persönlichkeit zu machen. Ich will gar nicht darauf eingehen, daß dies jedenfalls nicht unmittelbar als Zweck der Erziehung gelten darf, denn es müßte erst nachgewiesen werden, daß unsere Kultur durch solche „harmonische“ Persönlichkeiten gefördert wird oder daß der Einzelne durch eine solche Erziehung besonders glücklich und vorzüglich wird. Beides stelle ich in Abrede, aber ich lasse es beiseite, weil es sich hier um einen noch allgemeineren Denkfehler handelt, nämlich um den, daß eine gleich starke Ausbildung der verschiedenen Teile die Voraussetzung der Harmonie sei. Sehen wir uns doch das Ding an, von dem dieser bildliche Ausdruck hergenommen ist, die musikalische Harmonie. Ihre Grundform ist bekanntlich der Dreiklang, und dieser ist durch einen Grundton gekennzeichnet, der eine ganz andere Rolle spielt, als die untergeordneten anderen Töne. Und dasselbe finden wir überall sonst. Ein harmonisches Kolorit eines Bildes erweist sich gleichfalls immer als ein solches, das einer Grundfarbe oder sonst einem bestimmten, maßgebenden Farbengedanken untergeordnet ist, und so ist allgemein das Wesen der Harmonie nicht durch Gleichwertigkeit der Teile, sondern durch klare und unzweideutige Unterordnung des Ganzen unter eine bestimmte ausgezeichnete Beschaffenheit gekennzeichnet. Also, wenn etwas Richtiges in dem Wort von der harmonischen
Wilhelm Ostwald: Wider das Schulelend. Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H., Leipzig 1909, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wider_das_Schulelend.pdf/47&oldid=- (Version vom 1.8.2018)