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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß die eine Partei in Rom alles gegeßen, die andre hingegen ganz und gar von Pflanzenkost gelebt habe. Diese letztere Partei gieng also weit über die jüdische Aengstlichkeit hinaus. Der Jude und Judenchrist vermied ja keineswegs alle Fleischspeise, sondern nur diejenige, welche Gott im alten Testamente für unrein und gemein erklärt hatte; hier aber finden wir eine Richtung, deren völlige Enthaltung von allem Fleischgenuße stark an gewisse heidnische Schulen erinnert. Indes das mag nun sein wie es will, der Grund, warum die ängstlichen Christen zu Rom nur Pflanzenkost genoßen, mag aus ihrem früheren Heidentum oder etwa aus dem Gegensatze gegen die Opferspeise hergenommen gewesen sein oder woher sonst: so viel ist klar, es gab in der römischen Gemeinde eine freiere und eine ängstlichere Richtung. Und auch das sehen wir aus dem 14. Kapitel deutlich, daß sich diese beiden Richtungen nicht ganz wol vertrugen, denn der Apostel sagt zu mehreren Malen, z. B. im 10. Vers des 14. Kapitels, daß die freiere Richtung die andere verachtet, dagegen aber die ängstlichere ihre Nebenpartei verurtheilt und verworfen habe. Es war also zu Rom ein Widerstreit, und zwar scheint es aus dem ganzen Kapitel hervorzugehen, daß die freiere Richtung die übermächtige, die ängstliche aber trotz ihrer eigenen Stärke dennoch durch die Uebermacht der andern Partei gedrückt gewesen sei. Die freiere Partei hatte ja wol auch das Recht, weil das Wort Gottes auf ihrer Seite, sie fühlte sich daher auch stark und mächtig, und es lag ihr nahe, ihre Gegner so zu ignoriren und zu verachten, daß gewissermaßen alles Verhältnis zu ihnen aufgelöst worden wäre. Denn so ists mit der armen Menschenseele, wenn sie sich eines unbequemen Gegners entweder nicht entledigen kann, oder ihn nicht auf die rechte Weise überwinden will, weil ihr dazu Inbrunst und Ausdauer der Liebe fehlt, so fängt sie an denselben nicht blos zu verachten, sondern zu vergeßen; sie thut, als wäre er nicht da und setzt sich damit, soviel es nur immer möglich ist in den unangefochtenen und bequemen Zustand der vollen Freiheit, welchen ihr doch Gott der HErr nicht hat verleihen wollen. Sie hat ein solches Wolgefallen an der eignen Richtung, daß sie eine andere, um sie nicht tragen zu müßen, wenn nicht aus ihrer Nähe, doch aus ihrem Herzen und Andenken austilgt. Gerade das aber ist der Tod der Liebe. Das Misfallen Gottes und Seiner heiligen Apostel ist über denen, die so handeln und sich also hemmen, und die Hirtenliebe des heiligen Paulus straft in unsrem Texte auch die Römer, die er selbst noch nie gesehen hat, um dieses Verhaltens willen. Er verweist die übermächtige Partei der Freien und Starken zu Rom auf das größte Beispiel, das er finden kann, auf das Beispiel Christi: der habe gewis in allen Stücken und gegenüber allen Menschen ganz alleine recht gehabt, sein Anspruch auf Beifall und Anerkennung sei der gerechteste und vollkommenste gewesen, den es geben konnte; dennoch sei er Seiner Meinung und Seines Rechtes nie so froh gewesen, daß er sich um fremdes Unrecht gar nicht gekümmert hätte, im Gegentheil, wie es im 10. Vers des messianischen 69. Psalmes heiße, seien die Schmähungen derjenigen, die Gott schmähten, auf Ihn gefallen, und Er habe als ein Lamm Gottes sich der Sünden aller Sünder angenommen und sie getragen. Das sei geschrieben im alten Testament, im 69. Psalm, und zwar zu unsrer Lehre, damit wir durch die Geduld, welche uns in der heiligen Schrift in Gottes und Christi Beispiel vorgelegt werde, und durch die Ermahnungen des göttlichen Wortes gekräftigt würden, gleichfalls in Geduld und in der Kraft des Wortes Gottes die Hoffnung fest zu halten und ihr entgegen zu gehen. Was predigt also der heilige Apostel Paulus in unsrem Texte den römischen Christen? Die Starken sollen nicht gleichgiltig auf die Schwachen sehen, sie nicht verachten und aus dem Andenken ihrer Liebe austilgen. Sie sollen sich ihrer annehmen, sie tragen, so lang sie in ihrer Schwachheit und Aengstlichkeit verharren, und in der Kraft der himmlischen Geduld, die ihnen gegeben werden kann, gestärkt durch die Vermahnung des göttlichen Wortes an ihnen arbeiten, sich ihrer annehmen, wie sich Christus der Sünder angenommen habe und wie er nach den Zeugnissen der heiligen Schrift die entgegengesetztesten Menschen, Juden und Heiden zu einer Gemeine zusammengebracht habe, und ferner zusammenbringen werde, so sollten sie auch die Gegensätze in der Gemeinde erst tragen, dann aber durch Kraft der Wahrheit überwinden und nicht ruhen, bis eine heilige Einmüthigkeit, einmüthiges Gotteslob, Friede und Freude aller hergestellt sei. Das alles, meine lieben Brüder, gehört nach dem Apostel zur Geduld

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 013. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)