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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zahlreiches Volk, das die himmlische Berufung annahm; es bildete sich eine große Christengemeinde, die vor andern mit einer Fülle von geistlichen und außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes ausgezeichnet wurde. Wie es aber häufig zu gehen pflegt, so gieng es auch in Corinth: nach den ersten Zeiten der Erweckung und der Liebe zu Christo tauchten die alten angeborenen oder altgewohnten Fehler, Neigungen und Sünden wieder auf, machten sich wieder geltend und drohten das Werk des heiligen Geistes in der Gemeinde von Corinth zu zerstören. Nicht bloß trugen die Corinther das echtgriechische Wohlgefallen an menschlich natürlicher Begabung, namentlich an der Redegabe, auf ihre Lehrer im Christentum über und trieben Wählerei und Buhlerei mit den Lehrgaben derselben, als hätten sie es noch mit heidnischen Rednern und Schauspielern zu thun, – wie wir das aus Pauli eigenen Briefen wißen; sondern es spukte auch die alte heidnische Leichtfertigkeit wieder, und sie verziehen einander wie früherhin Sünden und Ausschweifungen, über welche der Geist des HErrn JEsus mit aller Strenge den Stab bricht. Und nachdem sie einmal diese abschüßige Bahn betreten hatten, kamen sie so weit und vergaßen ihre himmlische Berufung so sehr, daß sie es den Heiden an Gleichgiltigkeit und Leichtfertigkeit zuvor thaten. Sie konnten es vertragen, daß einer unter ihnen seine Stiefmutter zur Ehe nahm, d. i. eine Ehe schloß, welche der schändlichsten, frevelhaftesten Hurerei gleich zu achten war. Dieser Fall war es, welcher dem Apostel Paulus zu Ohren gekommen war und den er nun in unserm Texteskapitel angreift. Es ist ein gewaltiger, apostolischer Ernst, der in unserer Lection Worte und Ausdruck findet. Die Gemeinde hatte mit dieser faulen, unsittlichen Duldsamkeit gegen die abscheulichste Uebertretung des sechsten Gebotes das Zuchtgebot JEsu Matth. 18, nach welchem sich nicht bloß ein Bruder um die Sünde des andern, sondern auch ganze Gemeinden um die Sünden des einzelnen Gliedes mit höchster Angelegenheit bekümmern, alle Liebe und Strenge anwenden sollten, den Bruder zu heilen: – dieses Zuchtgebot JEsu hatte die Gemeinde von Corinth in der auffallendsten Weise mit Füßen getreten. Und dabei war ihr Gewißen so hart und unempfindlich geworden, daß sie gar nicht merkten, wie weit sie von der christlichen Bahn sich verirrt hatten und noch verirrten. Kein Gedanke daran, daß sie im Namen des armen Sünders Reue und Leid gehabt und Buße gethan hätten – alle für einen, wie einer für alle: sie bliesen sich im Gegentheil noch auf, wie der Apostel V. 2 sagt und waren in ihrer Meinung trotz all dem die weitberühmte Christengemeinde von Corinth. Und so unklug und unweise waren sie, daß sie von der grauenhaften Sünde auch nicht einen Augenblick Ansteckung für andere unter ihnen fürchteten. Das macht, sie waren selbst innerlich schon angesteckt. Konnten sie doch die Sünde sehen und wißen, ohne sie zu bereden, zu tadeln, zu bestrafen. Sie waren wie blind gegen den Sünder, giengen mit ihm zum Sakramente, es fiel ihnen nicht ein, daß deshalb der Name Christi in Verachtung kommen und gelästert werden müßte: wie sollten sie bei einer so großen Blindheit und Stumpfheit für solche und ähnliche Sünden selbst unempfänglich gewesen sein? Was stand bei einem solchen Grade von innerer Betheiligung an der Sünde in Aussicht, wenn nicht eine zunehmende Durchsäuerung auch des äußern Lebens der Gemeinde und das Hinfallen in ähnliche schnöde und schwere Fleischessünden, für welche die griechische Natur ohnehin so empfänglich, so entzündlich war. Diese Befürchtung ist es, welche in den Worten Pauli sich ausspricht: „Euer Ruhm ist nicht fein. Wißet ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert“?

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 Um nun die Corinther von ihrer schmachvollen Niederlage aufzuschrecken und zum Abwerfen und Zerbrechen alter, obschon neuangelegter Feßeln zu ermuthigen, hält ihnen St. Paulus eine gewaltige Wahrheit vor, auf die er durch Erwähnung des Sauerteigs geführt wurde; wenn man nicht vielmehr sagen soll: sie lag ihm zuvor schon in Gedanken, so daß er um ihretwillen auch das Gleichnis und Vorbild vom Sauerteig gebrauchte. Ich meine nemlich das Verhältnis einer christlichen Gemeinde zur neutestamentlichen Osterlammsmahlzeit. Das Osterlamm des Alten Testamentes war ein Sühnopfer, auf welches die Osterlammsmahlzeit folgte; durch diese wurden alle, welche das Lamm dargebracht hatten, ihres Opfers und seines Segens theilhaft und gewis. Aehnlich ist es im Neuen Testamente. Da ist Christus, Gottes Lamm, – von welchem St. Paulus spricht: „Wir haben auch ein

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/240&oldid=- (Version vom 1.8.2018)