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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Offenbarung Christi unterschieden war. Denn in dieser letzten Zeit wird der HErr nicht bloß den vorerwählten Zeugen, sondern allen Menschen erscheinen. Es wird dann keines Glaubens bedürfen, um Seine Gegenwart zu faßen, weil sie jedermann mit Augen schauen wird; in der apostolischen Zeit aber gibt es zwar auch ein Schauen, ein Augenzeugnis, aber nur wenigen wird es zugeschrieben, und diesen in keiner andern Absicht, als daß die Menschen dadurch möchten gläubig werden. Auf das wohlbeglaubigte Schauen der Apostel sollte sich der Glaube der ganzen Welt gründen.

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 Hiemit ist uns nun die Uebersicht nicht bloß des lehrhaften Theiles der heutigen Epistel, sondern überhaupt desjenigen gegeben, was die Apostel in ihren Predigten an Juden und Heiden als erste Grundlage zu gebrauchen pflegten. Die Apostelgeschichte enthält mehrere apostolische Reden, an denen wir den Inhalt der apostolischen Missionspredigt ganz klar ersehen können. Immer ist es so ziemlich einerlei Gang mit dem Gange unseres heutigen Textes; immer ist der Lebenslauf JEsu, Seine Todes- und Verherrlichungsgeschichte dasjenige, was die Mitte der Vorträge bildet. Was wir den jungen Kindern sagen und von Christo erzählen, das wurde damals als erste Mittheilung an die Zuhörer aus den Heiden und Juden gebraucht. Diese Thatsachen erscheinen uns so gering, daß wir die aus ihnen fließende und von ihnen abgezogene Lehre zuweilen für wichtiger und bedeutender halten; wer aber lang mit der Lehre umgegangen und sich mit den Gedanken bekannt gemacht hat, die sich die Menschen über die großen Grundlagen unseres ewigen Heils gebildet haben, der kehrt am Ende mit großer Hochachtung zu der einfachen geschichtlichen Erzählung zurück und findet sie wunderbarer als die Gedanken, die von ihnen tausendfach wie die Blätter vom Baume zu grünen pflegen. Vor allem steigt in den Augen des Urtheilsfähigeren die große Thatsache des Todes und der Auferstehung JEsu je länger, je höher. Doch aber gilt dasselbe auch von allem, was im Leben JEsu Seiner Auferstehung, Seinem Leiden und Sterben vorangeht. So werden die Salbung JEsu bei Seiner Taufe und Seine großen Thaten und Wunder immer mehr erkannt und geschätzt, je mehr sie beachtet werden. Man begreift, wie die Alten das Fest der Erscheinung JEsu als Eintritt in Seine messianische Würde und Offenbarung derselben mit so großer Feierlichkeit begehen konnten, ja man kommt den Ketzern der ersten Jahrhunderte auf die Spur, welche die Salbung JEsu bei Seiner Taufe nicht bloß als Amtsantritt, sondern, freilich in großer Verblendung, als die Zeit ansahen, in welcher sich erst das Göttliche in Christo mit dem Menschlichen vereinigte. Diese Irrfahrt der Ketzer und die Hochschätzung der Taufe JEsu bei den getreuen alten Kirchen kann uns beides lehren, daß wir über die große Wichtigkeit der Taufe unsers HErrn insgemein zu leichten Fußes weggehen. Wir müßen uns aber allerdings zu der Erzählung Petri im Texte und zu der im Eingang des Evangeliums Marci erst allmählich wieder zurück finden, erst allmählich wieder verstehen und schätzen lernen, welch eine große Begebenheit die Taufe JEsu ist. – Ebenso haben wir Ursache, die Wohlthaten und Wunder JEsu während Seiner Amtszeit vielseitiger und namentlich mehr im Zusammenhang mit der Taufe Christi zu betrachten, als geweißagte Zeichen des Menschensohnes, nicht bloß als Zeugnisse der in Christo JEsu vorhandenen Gegenwart der allmächtigen zweiten Person der Gottheit. Wie wir die Taufe JEsu mit zu stumpfen Augen ansehen, so geschieht uns ein Gleiches auch mit Seinen Wundern. Unsere Gedanken sind allewege zu kurz, und weil wir zu oft und viel in das Licht des großen Lebensganges JEsu mit unsern unbewaffneten, bloß natürlichen Augen gesehen haben, so ist uns die Sehkraft wie erloschen, und wir vermögen die großen lichten Gestalten der Führungen und Thaten JEsu nicht mehr zu faßen. – Mehr Achtsamkeit findet sich bei uns für die Geschichte der Leiden JEsu und Seines Todes, und wenn wir gleich auch dafür immerhin sehr stumpf zu sein pflegen, so sind doch die Leiden des HErrn zu sehr die Brunnen unsrer ewigen Freuden und unsres Heiles, als daß unser betrachtendes Auge von ihnen nicht unwiderstehlich angezogen werden sollte. Gewis könnte niemand ein Christ genannt werden, der diesen Mittelpunkt der Geschichte aller Werke und Thaten Gottes völlig übersähe. – Am meisten aber muß man sich doch über die Oberflächlichkeit verwundern, mit welcher die Geschichte der Auferstehung Christi und Seiner Erscheinungen behandelt wird. Hier liegen Fragen und Antworten zu Tage, welche für unser zeitliches und ewiges Heil von der größten Wichtigkeit sind, und wenn man Jemand nur so viel lehrte,

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/254&oldid=- (Version vom 1.8.2018)