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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

darf, in ihrer Entwickelung bis zu einem bestimmten Grade, ich denke bis zu dem Grade, in welchem sie als eine göttliche Macht der satanischen verlockenden Macht unserer Lüste gegenüber steht. Allerdings erscheint uns da das Wesen des durch Gottes Wort umgeänderten, ausgeborenen und erneuerten Menschen als ein zwiefaches, nämlich einmal als ein lichtes, dem göttlichen Bilde und Wesen entsprechendes, dann aber auch im Widerspruch der alten, dem Tode geweihten, aber noch nicht ertödteten lüsternen Natur. Diese Zweiheit aber ist ja keine bleibende, sondern eine verschwindende, aus welcher sich die Einheit und Kraft der andern neuen Natur und Creatur hervorhebt, so daß der Mensch je länger je mehr in sich die Gegensätze schwinden, sich selbst aber je länger je mehr in der Einfachheit und Klarheit der neuen göttlichen Natur einhertreten sieht. Das ist ja auch die heilige Absicht Gottes nach unserem Textesverse, in welchem es heißt, der HErr habe uns ausgeboren durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir mit einander würden wie ein Erstling und eine Erstlingsernte unter Seinen Creaturen. Es sollen Ihm dermaleins viel größere Ernten werden; Ihm gebührt nicht bloß von Seinen Creaturen ein Erstling, es soll Ihm, so weit nicht der Trotz der Bösen die heilige Absicht verhindert, herwiedergebracht werden die ganze unzählige Heerschaar Seiner Creaturen. Leider ist durch Schuld der Kreatur die sogenannte Lehre von der Wiederbringung aller Dinge ein unschriftmäßiger Traum; es kehrt nicht alles wieder, denn es beugt sich niemals aller kreatürliche Wille unter Gott. Wohl aber hat alle Kreatur den Befehl zu ihrer Heimkehr, und was der Wille Gottes ist, wenn nichts Ihm widerstrebt, das ist offenbar. Kehrt nun aber auch nicht alles wieder, so bleibt doch auch die Erstlingsfrucht nicht allein, die in den Tempel des HErrn zu Gabe und Opfer gebracht wird, es folgt auf die österliche Erstlingsgarbe ein reiches Erntefest der Pfingsten, wie in dem Festlauf der Israeliten, und auf diese Ernte soll die Erstlingsgarbe deuten, für die Ernte soll sie das Pfand sein. So sollen die neugeborenen Christen der ersten Zeit ein Pfand sein für das Gelingen des ganzen Werkes Gottes und zugleich eine göttliche Mehrung der Zuversicht in den Herzen der Gläubigen, daß Der, welcher die Erstlingsgarbe hat wachsen laßen, es auch nicht an der Ernte wird fehlen laßen. Unsere Wiedergeburt ist also eine Weißagung und Versiegelung fernerer Wiederherstellung der Kreatur, und die wiedergeborene Schaar einer jeden Zeit deutet auf die Garben und Ernten späterer Zeiten hin. Da sehen wir also gegenüber unserer Verderbnis, wie sie im ersten Verse beschrieben steht, eine sich mehr und mehr ausbreitende Wiedergeburt der Welt, einen Frühling der Kirche, der von der Ostergarbe zur Pfingsternte fortschreitet, ein der Zahl nach immer fortschreitendes mächtiges Wachstum der Kirche Gottes in der Zeit.

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 Hier schreiten wir nun zum dritten Theile Unseres Textes. Den laßt uns vor allen Dingen noch einmal hören, damit wir dann seinen Sinn und deßen rechte Deutung finden. „Darum, meine lieben Brüder, so übersetzt M. Luther, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden und langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist. Darum so leget ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmet das Wort an mit Sanftmuth, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen selig machen.“ Wenn man diese Worte äußerlich auffaßt, ohne recht auf Zusammenhang und Sinn zu horchen, so könnten wenigstens die ersten Verse sich wie pure Lebensregeln ausnehmen. Schnell zu hören, langsam zu reden, langsam zum Zorn – das klingt fast wie eine menschliche Klugheitsregel, gerade wie wenn einer dem andern die gute Lehre geben wollte, recht viel zu hören, wenig zu reden, sich nicht zu erzürnen, weil viel hören weise macht, mit viel Schweigen sich verredt niemand und mit wenigem Zürnen die eigne Seele wenig aus dem Gleichgewicht kommt, Gott und Menschen am meisten zufrieden sind. Allein, meine lieben Brüder, was soll die Klugheitsregel in diesem Zusammenhang? Der achtzehnte Vers redet von der Fortbewegung unseres neuen wiedergebornen Lebens unter Hindernissen: hat da der Apostel nichts nöthigers zu thun gehabt, als Lebens- und Klugheitsregeln zu geben? So schön die Klugheitslehre wäre, ist sie denn doch würdig, im Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen zu stehen? Oder deuten die Worte des heiligen Schriftstellers auf etwas anderes und größeres? – Durch das Wort der Wahrheit hat uns Gott ausgeboren, daß wir Erstlinge Seiner

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/286&oldid=- (Version vom 1.8.2018)