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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wenn wir mit einander zuerst die drei Worte einzeln betrachtet haben.

 Dasjenige Wort, welches Martin Luther mit dem deutschen Ausdruck „seid mäßig“ übersetzt, ist jenes den heiligen Aposteln so hoch stehende und werthe Wort, welches ich euch schon einmal nach dem griechischen Klange zu merken zugemuthet habe. Ihr werdet euch ja vielleicht noch an jenen Vortrag erinnern, da ich euch den schönen Namen männlicher Tugend, den Namen Sophrosyne nannte. Diese Tugend möchte ich namentlich zum Unterschied von der Nüchternheit eine Tugend nicht der Seele, sondern des Geistes nennen. Sie besteht zunächst in einem gesunden Urtheil über alle Dinge und in dem Bestreben, das gesunde, richtige, weder zur Rechten noch zur Linken von der Wahrheit abweichende Urtheil über alles zu finden, sich anzueignen und zu üben. Wo diese Tugend ist, da schafft sie eine ganz eigene Ruhe und Heiterkeit, eine Freudigkeit und Zuversicht und ein gutes Gewißen gegen jedermann. Diese Tugend ist aber auch nichts leichtes, nichts kleines, weder in unserer noch in früheren Zeiten. Die Heiden konnten das rechte Maß des Urtheils und das rechte Urtheil über die Dinge dieser Erde nicht finden, und auch in unsern gewöhnlichen Umgebungen, die von einem abfälligen Sinn und von weltlichem, antichristlichem Wesen beherrscht werden, kommt man schwer zu richtigem Urtheil und rechtem Maß des Urtheils. Es gehört eine Schule des heiligen Geistes und die bildende Kraft einer heiligen kirchlichen Umgebung dazu, um zu einem gesunden Urtheil gebildet zu werden, zu einem heiligen gottwohlgefälligen Maß der Gedanken. – Verstehen wir nun unter der Mäßigkeit, von welcher hier die Rede ist, eine Tugend des Geistes, so werden wir unter Nüchternheit mehr eine Tugend des Gemüths zu verstehen haben. Es ließe sich denken, daß in der höchsten Region der Seele das gesunde Maß der Gedanken herrschte, während das gemüthliche Leben von Uebertreibung nicht frei bliebe, Nebel der Leidenschaft, Rausch der Begeisterung, Gefangenheit der Neigungen in starkem Contrast zu dem gesunden Urtheil des Geistes ständen. Seelsorger kennen diesen Mangel an Ebenmaß und Harmonie der Menschenseele und wißen es, wie oftmals über trüben Regionen des gemüthlichen Lebens und seiner Stimmungen ein lauteres und gerechtes Maß heiliger Gedanken thront. Allerdings aber ist das ein unerträglicher Widerspruch: nur wo sich eine leidenschaftlose nüchterne Seele mit einem klaren, das göttliche Maß einhaltenden Gedanken vereinigt, gibt es ein rechtes Wohlsein. Schon als ich vorhin die heilige Sophrosyne in ihren Wirkungen und in ihrer schaffenden Macht vor euren Ohren schilderte, wußte und erkannte ich, daß sie nur auf dem Boden der Nüchternheit gedeiht; es war mir schier, als wäre sie die Quelle der Nüchternheit, als müßte sie alle Benebelung der Seele vertreiben, obwohl ich andrerseits auch wußte, wie oft im gewöhnlichen Leben sich die edle Tugend des Geistes im Widerspruch gegen das seelische Befinden und ohne Nüchternheit erweist. Wo nun entweder der Geist nicht richtig urtheilt, oder das Herz im Nebel und Rausche der Leidenschaften und Stimmungen dahin geht, da mangelt der normale Zustand der Seele für das Leben des Gebets. Es beten zwar allerdings Tausende, ohne die beiden genannten Tugenden, aber der Beter, wie er sein soll, ist klaren Geistes und nüchterner Seele; in dem Elemente der Mäßigkeit und Nüchternheit lodert wie unter reichlicher Strömung der Lebenslust die Flamme so das Gebet zu Gott auf, getragen vom rechten Maße heiliger Gedanken, ungehindert von unlauterer Stimmung der Seelen. Die heiligen Apostel bei ihrer Rückkehr vom Oelberg und der Himmelfahrt des HErrn, in der gewaltigen Läuterung, welche ihrer Seele durch die vierzig österlichen Tage und den Heimgang JEsu zu Theil wurde, mögen bereits eine herrliche Stufe des gerechten Maßes im Urtheil und der Nüchternheit der Seele beseßen haben; eben deshalb werden sie auch fürs Gebet und das selige Warten auf ihren Pfingsttag desto geschickter und bereiteter gewesen sein; der Pfingsttag selbst aber wird all dieses Leben und diesen herrlichen Zustand der Mäßigkeit, Nüchternheit und des Gebetes nur desto mehr erhoben, gereift und gestärkt haben. Das beweist die heilige Rede Petri am Pfingsttag, welche, wenn irgend etwas, der Spiegel einer mäßigen, nüchternen und betenden Seele ist. Möchte uns allen einem so heiligen Vorbilde nach durch den Geist der Pfingsten gegeben werden Mäßigkeit, Nüchternheit und Gebet. Unmaß, Mangel an Nüchternheit bindet die Flügel der Seele, daß sie nicht auffahren kann zum Gebet, wie gebunden am Boden liegt und den Weg zum Himmel nicht findet, welcher doch der Weg ihrer Heimath ist.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/305&oldid=- (Version vom 1.8.2018)