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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Nach dem Ablauf von vier Fragen, die ich Eingangs erwähnte, habe ich euch nun, meine lieben Brüder, die größere Hälfte unsers Textes vorgelegt. Die kleinere Hälfte löst sich mit der Beantwortung der zwei letzten Fragen. Unter den geistlichen Gaben stehen an erster Stelle, wie wir vernommen haben, die Charismen, die Gaben des heiligen Geistes. Diese faßt nun im Verlauf der Apostel ins Auge und zeigt uns, was wir von uns selbst und aus Verfolg allgemeiner christlicher Grundsätze nicht wißen können, nemlich welcherlei die Charismen oder Gnadengaben des heiligen Geistes sind? Richtet, meine Freunde, richtet, wie es rechten Hörern ziemt, das Auge in Vers 8–11 des Textes und gebt wohl Acht, ob ich auch alle und jede Charismen aufzähle, welche St. Paulus nennt. Er führt an: 1) das Wort der Weisheit, 2) das Wort der Erkenntnis, 3) den Glauben, 4) die Charismen der Heilungen, 5) die Wirkungen der Kräfte, 6) die Prophetie oder Weißagung, 7) die Unterscheidung der Geister, 8) die verschiedenen Arten der Zungen, 9) deren Auslegung.

 Man kann diese neun Charismen wieder zusammenordnen in vier Classen, deren erste, dritte und vierte je zwei, die zweite aber drei Charismen zusammenfaßen. – Die erste Classe umfaßt das Wort der Weisheit und das Wort der Erkenntnis. Das Wort der Weisheit ist von allen Charismen das erste, weil es das nöthigste ist; es ist die eigentliche Gnade der Hirten, welche das Volk zum ewigen Heile weisen und leiten, denn die Weisheit weist den Weg zum Himmel. Nach diesem ersten Charisma folgt das würdige zweite, das Wort der Erkenntnis, wodurch man in alle Wahrheit, in den Zusammenhang der einzelnen Wahrheiten und deren Tiefen hineingeführt wird. Beide Charismen zusammen sind Ein heiliges Paar, sind der Kirche Gottes immer zur Hand, fehlen niemals. Auch unterstützt eine die andere, sintemal die Erkenntnis nichts anderes lehrt als das Wort der Weisheit und die Weisheit jede neu geschenkte Förderung der Erkenntnis zum gleichen Zweck und Ziele, Seelen sicher zur Ewigkeit zu führen, benützt. – Die zweite Classe von Charismen schließt drei ein: zuerst den Glauben, nemlich den Wunderglauben, welcher den Wundergaben und Wunderthätern sich vermählt, wie das Weib dem Manne. Wo niemand ist, dem Gott den Wunderglauben schenkte, da wird wohl auch schwerlich einer sein, welcher die Gabe der Heilung oder der Wunderkräfte hat. Darum ist der Wunderglaube, als Bedingung und Vorbereitung, vor den Heilungs- und sonstigen Wundergaben erwähnt. Merkwürdig ist es, daß der Apostel den Ausdruck gebraucht: „die Gnadengaben der Heilungen“, damit also andeutet, daß es verschiedene Heilungen und für die verschiedenen Heilungen verschiedene Gaben gebe, so daß also der eine die, der andere jene Gabe haben kann, der eine diese, der andere jene Krankheit wegzunehmen bevollmächtigt wird. Eben so merkwürdig ist der apostolische Ausdruck „Wirkungen der Kräfte“. Wer sich andere Stellen aufschlägt, in denen dieselben Worte gebraucht sind, wird sich leicht überzeugen, daß hier von Wunderkräften die Rede ist. Die Gnade zu heilen ist von den übrigen Wunderkräften verschieden und deshalb auch unterschieden. Der heilige Geist verleiht verschiedene Kräfte zu verschiedenen Wirkungen, nicht einem alle, sondern verschiedenen verschiedene.

 Sind nun in dieser zweiten Classe der Charismen mit dem Wunderglauben Heilungs- und andere Wundergaben zusammengefaßt; so erscheint uns in der dritten Classe ein edles, durch Gott verbundenes neues Paar: die Prophetie und ihr zur Seite die Unterscheidung und Beurtheilung der Geister der Propheten. Es gibt allerlei Propheten, Propheten Gottes und Propheten des Teufels: aus jenen redet der HErr, der alles Glaubens und Vertrauens werth ist, aus diesen aber der Geist der Lüge, welcher so gerne den Schein des heiligen Geistes und lichter Engel borgt. Weil nun der Propheten mancherlei sind und der Satan seine Propheten gibt, wo Gott die Seinen; so schenkt der heilige Geist die Gabe der Unterscheidung der Geister da, wo Propheten auftreten, und verzäunt dadurch den Weg der Heiligen. – Die vierte Classe der Charismen ist ähnlich wie die zweite eine Vermählung und Ergänzung zweier einzelnen Charismen. Wie neben dem begeisterten Propheten das wache, nüchterne Auge des Kenners der Geister, so geht neben dem glückseligen Zungenredner, dem Lobsänger Gottes in fremden Sprachen der edle fromme Hermeneut, der Dolmetscher, der was allen andern oder vielen andern unverständlich,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 071. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/447&oldid=- (Version vom 1.8.2018)