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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gnade soll nicht vergeblich, nicht leer, nicht fruchtlos bleiben; die Gnade ist gut, fruchtbar, heilig – und macht gut, fruchtbar und heilig.

 O ihr Glieder dieser Gemeinde, daß ihr euch doch aus diesem Texte nähmet, was sich ziemet zu nehmen. Aus dem Beispiele des Pharisäers nehmt Schaam für allen eitlen Selbstruhm, für das stinkende Selbstlob, welches ihr, wie es oft auch den frechsten Sündern geht, von euerm Munde habet triefen laßen. Aus dem Beispiele des Zöllners und Pauli, aus zwei berühmten Beispielen, lernet Sünden bekennen und die Gnade rühmen, die Gnade der Vergebung und der Heiligung. Aus dem Beispiele Pauli insonderheit lernet, wie die Gnade nicht vergeblich sein soll, also auch vergeblich sein kann. Dem Selbstruhm abgestorben, Sünden bekennend, gnadenhungrig gehet ein in den Gehorsam Christi und laßet euch heiligen. Sein Tod sei eurer Sünde Tod, Seine Auferstehung bringe in euch Auferstehungskräfte – und die Gnade sei mit euch auf allen euern Wegen, in mancherlei Gestalt, mit mancherlei Frucht, aber doch immer als Eine, nemlich als Tödterin der eigenen Gerechtigkeit, als Königin, welche mit dem hochzeitlichen Kleide der Gerechtigkeit Christi kleidet, und als Mutter, die in alle Reichtümer des inwendigen Lebens und der Heiligung einführt. Gnade werde das Wort, das alles ausdrückt, was wir haben, was wir brauchen und ewiglich nicht entbehren können.

 Gnade Gottes und Christi sei mit uns immerdar! Amen.




Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.

2. Cor. 3, 4–11.
4. Ein solch Vertrauen aber haben wir durch Christum zu Gott. 5. Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken, als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott; 6. Welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments; nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig. 7. So aber das Amt, das durch die Buchstaben tödtet und in die Steine ist gebildet, Klarheit hatte, also, daß die Kinder Israel nicht konnten ansehen das Angesicht Mosis, um der Klarheit willen seines Angesichts, die doch aufhöret: 8. Wie sollte nicht vielmehr das Amt, das den Geist giebt, Klarheit haben? 9. Denn so das Amt, das die Verdammnis prediget, Klarheit hat; vielmehr hat das Amt, das die Gerechtigkeit predigt, überschwängliche Klarheit. 10. Denn auch jenes Theil, das verkläret war, ist nicht für Klarheit zu achten gegen dieser überschwenglichen Klarheit. 11. Denn so das Klarheit hatte, das da aufhöret; vielmehr wird das Klarheit haben, das da bleibet.

 IM Evangelium wird uns erzählt, wie der HErr einen Taubstummen durch Sein mächtiges Hephatha heilte. Die Epistel aber handelt von der Herrlichkeit des neutestamentlichen Amtes. Was ist zwischen den beiden Texten für ein Vergleichungs- oder Berührungspunkt? Ist auch einer oder keiner? könnte man fragen, wenn man so einfach, wie wir es eben thaten, den Hauptinhalt angibt. Vergegenwärtigt man sich aber den Inhalt der beiden Texte im Einzelnen, so sieht man bald, daß sich allerdings beide innig verwandt die Hände reichen. Ehe der HErr den Taubstummen in Seine göttliche Behandlung nahm, war er eben ein Taubstummer, konnte nicht reden, nicht hören; des HErrn Hand und Hephatha gibt ihm Gehör und Sprache. Eben so vermag ein Mensch von Natur nicht, das Amt des Neuen Testamentes zu führen, er ist taub, Gottes Wort zu hören, stumm, es zu reden; ohne des HErrn Hand und Hephatha gibt es keinen würdigen Vertreter und Verwalter des gesegnetsten unter allen Aemtern und Berufen. Der Taubstumme, der nicht hörte, noch redete, aber hernach hörend und redend wurde, ist St. Paulus, und alle, die das Amt des Neuen Testamentes haben: auf die heiligen Amtsträger

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 081. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/457&oldid=- (Version vom 1.8.2018)