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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

umstanden, von denen wir wenigstens nicht sicher wißen, ob sie auch später sich unter den Anbetern JEsu gefunden haben, so sollen wir es begreiflich finden lernen, daß den Menschen „und Marien“ Sohn bei seiner Wiederkunft ein Eigentumsvolk umgeben werde, das seiner würdig im Glanz einer himmlischen Erziehung und Bildung ihn umgebe. Wie uns eine Sehnsucht ergreifen kann, unter den Hirten gewesen zu sein, eine unfruchtbare, denn was hilft ein Sehnen rückwärts in die Vergangenheit, so soll uns vielmehr eine Sehnsucht ergreifen, dermaleins seiner werth, unter seinem Eigentumsvolke zu stehen und seine Herrlichkeit zu schauen. Ja nicht bloß diese Sehnsucht nach unsrer Vollendung soll uns faßen, sondern eine höhere, größere, beßere Sehnsucht, die Sehnsucht nach Ihm selber, der da kommt. Das Kindlein in der Krippe können wir nicht mehr schauen, die Zeiten sind vorüber; aber den König, der aus dem Kinde geworden ist, den können und sollen wir schauen und durch alles, was wir von ihm lesen und hören, soll unsre Sehnsucht groß gezogen werden. Die Alten haben eine schöne, sinn- und inhaltreiche Sage von der Mutter Gottes. Eine solche Sehnsucht habe sie nach der Auffahrt ihres Sohnes gehabt, ihn wieder zu sehen, daß sie weniger wie seine Mutter als wie eine sehnsuchtsvolle Braut erschienen sei; bei allem zunehmenden Ernst des Lebens, bei aller Verleugnung der Welt und zunehmender großer Heiligkeit und Gerechtigkeit habe sie je länger je weniger den Eindruck einer alternden Matrone, je länger je mehr den der festlichen, bräutlichen, harrenden Jugend gemacht. Auch ihr Tod sei kein Sterben, sondern das Aushauchen einer sehnsuchtsvollen Seele, das Aufgelöstwerden einer gefeßelten Braut gewesen, die nun dem Bräutigam unaufhaltsam entgegeneilte. Da ist die Mutter Gottes ein Vorbild aller Heiligen, deren Leben nichts andres ist, als eine Erziehung für den großen Tag des HErrn.

 Das sei auch euer Leben. Die Mühe, welche der HErr, euer Gott, durch Wort und Sakrament an euch wendet, sei reich gesegnet für euer Herz. Jede Feier von der Weihnachts- bis zur Pfingstfeier bring euch eine Stufe weiter, fördere euch von einer Klarheit zu der andern. Und wenn die Welt die Blüten wird abschütteln und leer werden der Baum des irdischen Lebens, wie ein öder abgeleerter Weihnachtsbaum, der HErr aber selbst den Seinen ein Baum des ewigen Lebens sein und ihnen die Früchte des Paradieses wird zu eßen geben, dann fehle von uns Keiner, sondern Er selber helfe uns, daß wir fertig mit dieser Welt, züchtig, gerecht und gottselig der seligen Hoffnung, dem großen Gott und Heiland entgegenlaufen mit ausgestreckten Armen und brünstigem Verlangen. Amen.



Am zweiten Weihnachtstage.

Titus 3, 4–7.
4. Da aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes: 5. Nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir gethan hatten, sondern nach Seiner Barmherzigkeit machte Er uns selig, durch das Bad der Wiedergeburt und Erneurung des heiligen Geistes; 6. Welchen Er ausgegoßen hat über uns reichlich durch JEsum Christum, unsern Heiland; 7. Auf daß wir durch desselbigen Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens, nach der Hoffnung.

 WEnn uns die gestrige Epistel das Eigentumsvolk unsers HErrn JEsus Christus in der Arbeit der erziehenden Gnade Gottes zeigt, so setzt sie voraus, daß das Eigentumsvolk schon vorhanden, geboren und über die erste Strecke der unmündigen Kindheit hinaus sei, denn wer erzogen werden soll, der

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 044. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/51&oldid=- (Version vom 1.8.2018)