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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Schlüße machen lernt und Blicke auf Ihn, um nicht zu sagen, in Ihn bekommt, welche zuvor versagt waren. Es hat jede Stufe des geistlichen Lebens ihren besondern Segen und bringt Fortschritt nach allen Seiten des innern Lebens hin, wenn sie recht erlebt und angewendet wird. So hat der Fleiß in guten Werken auch einen wunderbar entsprechenden Fortschritt der Erkenntnis – merke wohl, nicht bloß des Willens, sondern des Wesens Gottes und unseres persönlichen Verhältnisses zu Ihm. Dieser Fortschritt gehört in das große Kapitel von dem Gnadenlohn, darf nicht falsch, nicht als im Gegensatz zum Grunde des Heiles aufgefaßt oder ausgedeutet werden, hat aber für die, welche im Heile, in der Gnade fester geworden sind, seine gewisse Wahrheit und kann zum Segen betrachtet und besprochen werden. Der HErr bewahre Seine Heiligen vor Irrtum, führe sie aber immer tiefer hinein in die klare Flut lebendigen Waßers.

 Reiche Früchte und immer sproßenden Frühling der Erkenntnis neben dem Herbste jener Früchte erbittet St. Paul den Colossern. Noch aber ist er mit diesen Bitten nicht zufrieden und sein Gebet hat noch kein Ende. Er hat hauptsächlich noch zweierlei, was nach seinem sicheren Blicke die Colosser bedürfen und was er ihnen erbittet, erstens Geduld und Langmuth, und zweitens ein allezeit dankbares Herz gegen Gott.

 Du blickst in den Text und prüfest meine Rede, ob es wahr ist, daß der Apostel diese zwei Dinge erbittet, nicht mehr, nicht weniger: du zweifelst ein wenig? Du drängst vielleicht andere Bedenken zurück, betonst aber aus dem 11. Verse: „alle Geduld und Langmuth mit Freuden“ und wirfst die Frage auf, ob nicht der Bitten mindestens noch drei seien: Geduld und Langmuth – Freude – ein dankbar Herz. Allein die unter Leiden ausharrende Geduld und unter lange fortgesetzten Sünden und lange andauernden Gebrechen oder sittlichen Krankheiten bewährte Langmuth wird im Texte mit der Freude, die Freude mit ihr verbunden: warum? weil sie ohne Freude eine Last und schweres Leiden ist, nur durch Freude erträglich und selig werden und sein kann. Freude ist nicht eine neue Bitte des Apostels, sondern eine nähere Bestimmung und Bezeichnung der von ihm erbetenen Geduld und Langmuth, eine Eigenschaft der Geduld und Langmuth, welche gar nicht fehlen darf. Geduld trägt Lasten; sofern sie Sünden und Fehler des Nächsten trägt, heißt sie Langmuth; unter Lasten im Schweiße des Angesichtes, unter immerwährenden Beleidigungen im Sinne der Ergebung dahin gehen, ist gleichfalls etwas Großes; es mag aber auch in diesem Stücke die natürliche Tugend vieles leisten und erreichen, was innerlich und vor Gott dennoch keinen Werth hat. Dagegen aber das ist himmlisch, geistlich, nicht natürlich sondern übernatürlich, des Königs Christi würdig und Sein heiliges Wohlgefallen: geduldig und langmüthig zu sein mit Freuden. O wer da weiß, was das geredet ist, was ich da sage, der kann ja freilich sein Haupt schütteln. Es ist das Bild eines geistlichen Lastträgers und Sündenerdulders, der dabei voll Freuden ist, so etwas wunderschönes, ein solch heiliges Schauspiel der Himmel, daß ich glauben würde, so etwas sei nur an und in Christo JEsu Selbst erschienen, werde andern nicht gegeben, sei drum von andern auch nicht zu fordern, wenn nicht der 11. Vers des Textcapitels mich tröstete und eines andern berichtete. Der Apostel schickt den Worten, in welchen er die hohe Gabe und Tugend für die Colosser erbittet, etwas voraus, das sehet an. Es sind prachtvolle Worte, voll Inhalts. „Zu wandeln würdiglich des HErrn, zu allem Wohlgefallen, in aller Kraft erkräftigt nach Maßgabe der Gewalt Seiner Herrlichkeit zu aller Geduld und Langmuth mit Freuden.“ So heißt es wörtlich. Und da haben wir also Aufschluß, wie St. Paulus eine solche Geduld und Langmuth von den Colossern erwarten, wie dieselbe für sie erbitten kann. Dazu braucht man Kraft und Sehnen, wenn man die Lasten des Christenlebens, die Sünden, Fehler und Gebrechen der Brüder tragen soll. Wenn man einem Säulengange ein mächtiges Gebälke, den Mauern eines Gebäudes ein schweres Dach auflegen soll, muß man Säulen und Mauern stark machen. Stärke, Stärke bedarf der Christ zur Geduld und Langmuth; wahrlich, er muß, mit St. Paulo zu reden, „in aller Kraft gekräftigt“ sein. Wo aber die Kraft hernehmen, die Last zu tragen und sich dabei noch obendrein zu freuen, so wie ein Christ fasten und überdies sein Angesicht salben soll? Da gibt es ein Maß, an das er sich halten kann, an welches sich bittend St. Paulus selbst hält: es ist

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/539&oldid=- (Version vom 1.8.2018)