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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Erde zu kommen. Verstehst du, was du liesest? Ich denke, du verstehst und verstehst doch nicht. Gewohnt, alles fast, was die Schrift von den ewigen und zukünftigen Dingen redet, wie man sagt, geistlich auszulegen, wirst du nicht wißen, wie man den Inhalt unsers Verses geistlich auslegen kann. Verlegen ob der geistlichen Deutung wirst du die einzelnen Theile des Verses schärfer ansehen und finden, daß man entweder die Sache nehmen muß, wie sie steht, oder es läßt sich gar nichts Klares denken. Es wird dir vielleicht gehen, wie mir und andern, die, je länger sie die Schrift lesen, desto mehr sich gezwungen sehen, sie zu laßen, wie sie ist: also hier einen Commandoruf des HErrn, einen Ruf Seines in der Schrift öfter genannten Feldherrn oder Erzengels Michael und ein Posaunengetön anzunehmen, ähnlich wie es etwa auf Sinai zu hören war. Und weil ein Commandoruf des obersten, wie des Unter-Feldherrn, so wie Posaunenton ein Heer voraussetzen, so wirst du den HErrn in Begleitung eines himmlischen Heeres zur Erde niederwärts kommend dir denken müßen: ein himmlischer, gewaltiger Heereszug wird vor das Auge deines Geistes treten, der HErr und Seine vereinte Heerschaar kommen, dem Gericht der Kirche ein Ende zu machen zum Siege und die Feinde der Kirche, wo sie auch seien, zu überwinden. Das stimmt mit den übrigen Stellen der heiligen Schrift so völlig überein, daß ich es gar nicht für nöthig halte, viel davon zu sprechen. Wer bisher dergleichen nur mit den Ohren vernahm, ohne mit dem Geiste drauf einzugehen, der lerne von nun an, wenn es ihm möglich ist, ein Beßeres. Wohlan, das sagt der Text von dem Kommen JEsu; was aber soll auf Erden geschehen, wenn sich die Heerschaar der Himmel niederwärts bewegt?

 Davon redet weiter die Schrift. Während der Zug der himmlischen Heerschaar niederwärts kommt, ereignet sich auf Erden an jenem großen Tage eine mächtige Bewegung. Unter der Erde schlafen die Leiber der Heiligen. „Sie sind entschlafen durch JEsum,“ sagt der Text, und braucht damit von den Todten einen hoffnungsvollen Ausdruck. Der Schlaf ist vom Tode dadurch unterschieden bei aller Aehnlichkeit, daß er kein Tod, sondern ein Zustand des Lebens ist, welcher den Menschen nur desto mehr stärkt und kräftigt für alles wache Leben und Wirken. Ist aber der Tod selbst dem Schlafe ähnlich in dem, worin dieser sich von ihm unterscheidet, so ist ihm schon durch diese Vergleichung, welche aus dem Munde Christi und Seiner Apostel kommt, das Schreckliche genommen. Werde er noch so sehr Tod, d. i. des Schlafes Gegentheil, gehe er in das Grauen der Verwesung über und lege die Leiber in Staub oder Asche: das hat alles nicht weniger als wir der große HErr gewußt, der ihn einen Schlaf nennt und nennen läßt. Es kommt die Zeit, da der Schlachtruf vom Himmel ertönt, Michaels Stimme und die Posaune der Heerschaar vernommen wird: – wenn diese Zeit des Streites und Kampfes kommt und das Reich des Feindes erlegt werden soll, dann ist ausgeschlafen für alle, die in der Erde liegen, und der Schlachtruf ihres Königs bringt die Leiber der Heiligen wieder. Von Seiner Siegesschlacht wird keiner der Seinigen ausgeschloßen, keiner darf fehlen, jeder wird selbst wie eine Beute des Königs dem Tode entnommen und arbeitet wohl auch, wir wißen nicht wie, mit zu dem großen Siege. – So kommt von dem Himmel die Heerschaar, so hebt sie sich aus der Erde; ja, sie wird, wie die Schrift sagt, „mit ihrem König geführt“, zu Ihm empor, dem kommenden, und mit Ihm herunter, dem Feinde entgegen. So wenigstens scheint das Wort der Schrift aufgefaßt werden zu müßen.

 Wer sich das denkt, wie der HErr Seine himmlischen Heere erdwärts führt, wie die heiligen Todten auferstehen, zu Ihm erhoben werden, mit Ihm kommen, der braucht in der That keine starke Einbildungskraft zu haben, um innerlich ergriffen zu werden. Aber unser Text liefert uns zum größten aller Bilder noch mehr Züge. Es liegen ja nicht bloß viel Tausende von heiligen Leibern im Grabe; sondern viele heilige Seelen werden zu jener Zeit hier auf Erden leben, in ihren Leibern leben. Was soll mit denen werden? Was für ein Loos werden die Heiligen haben, welche am großen Tage noch unter den Lebendigen übrig sein und die Zukunft ihres HErrn erleben werden? Sie werden nicht sterben; vielleicht werden die Schrecken und Aengsten, welche sie zu erleiden haben, für Todesschrecken gerechnet werden; vielleicht wird ihre Verwandelung aus dem Todesleibe in den der Unsterblichkeit, wenn das Sterbliche vom Leben wird überkleidet werden, mit Todesschmerzen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/543&oldid=- (Version vom 1.8.2018)