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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sondern bloß in einem verheißenden Worte sich zeigte. „Komm hinab“ betet er, – „Geh hin, dein Sohn lebt“, ist die Antwort, die dem Vater des Sterbenden genügt. Ach, so männlich bescheidenes, einfältiges Glauben und Beten schenke, lieber HErr, auch uns!


Am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Matth. 18, 23–35.

 ES ist ein eigenes Ding um das Haushalten. Man kann einnehmen und ausgeben einen Tag nach dem andern, es kann von Tag zu Tag der Mangel höher steigen; bei alle dem aber kann man noch hoffen. Man kann unheimliche Qual im Herzen haben, aber den natürlichen und wahrscheinlichen Ausgang des Haushaltens immer noch theils für sehr fern, theils am Ende auch nicht für so ungünstig halten, als er doch werden muß. Die Größe der Schulden, die Unmöglichkeit sie zu bezahlen, findet man nicht, es sei denn, daß man rechne, Einnahme und Ausgabe wäge, die Ausgabe nach Maßgabe der Einnahme schätze. Wer gerne klar sieht, der legt täglich, wöchentlich, monatlich Rechnung, – wer gerne klar sieht, thut das, und wer gerne rechnen lernen und am Ende beim Rechnungsabschluß fröhlich sein will, der thut es auch. – Wer gerne rechnet, der rechnet gut und immer beßer. Wir nicht gerne rechnet, deß Rechnung steht schlecht, der sammelt sich Wolken und Blitze für den unabweisbaren, unausweichlichen Rechnungstag.

 Verachte, lieber Leser, diese Haushaltungsregeln nicht. Der HErr im Evangelium vom 17. Sonntag nach Trinitatis lehrt demuthsvolle Klugheit mit Tischregeln, und ich lehre dich, – und zwar getreu dem Evangelio, mit Haushaltungsregeln rechte Seelensorge, welche nachhaltig für Todes- und Gerichtstage Gottes wirken soll. Der Knecht, welcher zehntausend Pfund schuldig war, würde zweifelsohne eine so große Schuld nicht angehäuft haben, wenn er alle Tage gerechnet hätte. Und wenn er durch tägliches Rechnen seine eigenen Kräfte kennen gelernt hätte, so würde er nicht hernach, statt um Vergebung zu bitten, die thörichte Bitte um Aufschub und das eitle Versprechen, alles zu bezahlen, vor seinen HErrn gebracht haben. Er kannte den Werth Eines Pfundes nicht, wußte nicht, wie viel er, wie viel sein Herr hatte, nicht wie viel er ausgegeben, nicht wie viel fehlten – und durch die große Unwißenheit in seinem zeitlichen Berufe wurde er zu dem hochmüthigen Narren, der im kurzen Leben Weib und Kind ernähren, und zehntausend Pfund sammeln zu können wähnte. Dem Knechte gleichst du, mein Freund, wenn du nicht deine Gaben und Pflichten mit deiner Treue und deinen Leistungen täglich vergleichst, aufrichtig vergleichst, wenn du nicht eitle Hoffnungen des Beßerwerdens aus dem ernsten, ganz in Vergangenheit und Gegenwart sich bewegenden Geschäfte des täglichen Gerichts über deinen eigenen Werth ganz hinwegläßest. Rechne alle Tage, sei alle Tage streng gegen dich, so wirst du im Klaren über dich und dein Bedürfen sein, so wirst du deine Armuth, deine Unschuld, die Unmöglichkeit, dich aus der Schuld zu heben, klar erkennen und bei dem HErrn, deinem Gott, dem Gerichtstage durch die Bitte um Vergebung zuvor kommen, welche in deinen Umständen das Weiseste und das Beste ist. Thust du das, so wird es auch noch einen anderen Nutzen haben, welchen du aus dem Evangelio kennen lernen kannst. Der Knecht, welcher zehntausend Pfund schuldig war, erkannte auch bei der Rechnung nicht seine lebenslängliche Zahlungsunfähigkeit, also auch nicht die Tiefe seiner Verschuldung, deshalb auch nicht die Größe der Wohlthat, welche in dem Erlaß aller Schulden lag: er hatte sein eigenes Elend nicht erkannt, gewürdigt, und gefühlt. Was war die Folge? Die Unbarmherzigkeit gegen seinen Schuldner. So ists. Der ist ein unbarmherziger Richter und Rächer seiner Schuldiger, welcher nicht durch tägliches Rechnen die Menge seiner Sünde und die Hülflosigkeit seiner Lage erkannt hat. Demüthige Erkenntnis eigner Schuld macht mild, versöhnlich gegen andere und wird so ein Anfang guter Werke. Darum noch einmal, geliebter Leser, laß uns weise sein und rechnen, – laß uns rechnen, daß wir gütig werden!


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/582&oldid=- (Version vom 1.8.2018)