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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Mörderherzen den Frieden, ja Gottes-Kindschaft und ewigen Segen, und läßt ihnen durch Apostel und Evangelisten Grüße unaussprechlicher, heißer, versöhnlicher Liebe sagen; aber das hilft auch nichts, sie mögen nicht, bis die Geduld zu Ende ist, und der Tempel, die Stadt und das Land zur Wüstenei werden. Und wie die Juden, so sind auch wir, auch wir, wir elenden blinden Thoren, die wir nach 1800 Jahren nicht weiser sind, als die Mörder Stephani und Christi.

 Und doch ist die Kindschaft so selig und so herrlich, die vollkommene Frucht des vollkommensten Gehorsams Christi, werth daß man alle Fesseln bräche, und alles dafür hingäbe! Sie ist’s ja auch, auf die ich während dieses ganzen Vortrags das Auge gespannt habe, von der ich mit alle dem, was ich bis jetzt gesagt, schon mit gepredigt habe. Ich kann euch zur Kindschaft nicht zwingen, zum Verlaßen aller Fesseln und aller Knechtschaft nicht nötigen; hie gilt kein Zwang, weil sich die Stimme der Weisheit und Wahrheit nicht zwingen läßt. Aber sagen muß ich euch wenigstens noch, was im Texte von der Kindschaft steht, und hab ich das gethan, d. h. mein hauptsächliches heutiges Werk, dann sei euch Wahl und Ueberlegung anheimgegeben. Ich bin verantwortlich für mein Wort, und ihr für euer Thun.

 Das Wort, welches Martin Luther mit „Kindschaft“ übersetzt hat, heißt eigentlich „Einsetzung in die Kindesrechte“, Adoption, und erst nach dem verallgemeinerteren Sprachgebrauch der Griechen wird es zur Bezeichnung des kindlichen Verhältnisses überhaupt gebraucht. In der Stelle und in dem Zusammenhang, in welchem nun aber das Wort in unserm Texte steht, kann es zunächst nichts heißen, als Einsetzung in die Kindesrechte, denn im kindlichen Verhältnis steht ja allerdings der schon, der als Mündel Vormünder, Verwalter und Pfleger hat. Man kann zwar sagen, daß uns Gott in Christo JEsu erst als Kinder annehme, und daß wir vor geschehener Erlösung nicht Kinder sein könnten; allein das tritt eben nach dem Gleichnis unsers Textes mehr zurück. Der Israelite war ein Gotteskind in Hoffnung und nach der Verheißung, und als solches einstweilen den Pflegern und Vormündern übergeben; in Genuß und Ausübung der kindlichen Rechte aber sollte er durch JEsum Christum treten. So lang er unter den Vormündern und Pflegern war, war er allerdings einem Sklaven nicht unähnlich, mit dem Eintritt in die Kindesrechte aber heißt es nach dem Wortlaut des achten Verses in unsrem Texte: „Nun bist Du kein Knecht mehr, sondern ein Sohn.“ Aus ists mit den Pflegern und Vormündern; die Sklaven, die zuvor über dem jungen Erben standen, neigen sich jetzt vor Ihm; auch ist das Ende der Elemente der Welt und aller Schulstudien gekommen, und der erwählte und mündig gewordene Sohn tritt in das Erbe Seines Vaters ein, wie wir im Texte lesen: „Bist Du aber Sohn, so bist Du auch Erbe.“ Der volleste, freieste Besitz und der unbeschränkteste Genuß der väterlichen Güter ist eingetreten. – Hier, meine lieben Brüder, ist nun vor allen Dingen zu faßen, was unter dem Erbe zu verstehen sei. Zuweilen steht dies Wort, wie z. B. 1 Petri 1, 4 von jenen Gütern, welche uns im Himmel aufbehalten sind, „von dem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das im Himmel aufbewahrt ist für diejenigen, die in der Kraft Gottes aufbewahrt werden durch den Glauben für das Heil, das schon bereit liegt um in der letzten Zeit offenbart zu werden.“ In diesem Sinne kann es in unserm Texte nicht gebraucht sein. Da ist ja das Erbe gegenüber gestellt der Unmündigkeit des alten Testamentes, und man tritt in dasselbe nicht erst nach dem Tode ein, sondern alsbald nach vollendeter Erlösung und gläubiger Annahme derselben. Dies Erbe, oder beßer zu reden, dieser Teil unsres Erbes muß also nicht jenseits, sondern diesseits des Todes liegen und alles das umfaßen, was uns der himmlische Vater in dieser Welt um JEsu Christi willen beilegt. Was in den Satzungen des alten Testamentes vorgebildet ist, und sich in den Weißagungen der alten Propheten abgespiegelt hat, was zuvor kein Auge gesehn, kein Ohr gehört hat, aber von Gott denen bereitet ist, die Ihn lieb haben, was alles in Wort und Sakrament und durch Wort und Sakrament mitgeteilt wird, und der Christ als ein Gnadenrecht dahin nehmen darf, das ist alles zusammengefaßt in dem einen Worte „Erbe“, das ist unser diesseitiges Erbe in der Pilgrimschaft. Der vorlaufende Teil jenes ewigen Erbes der triumphirenden Kirche, und der gläubige Empfang der diesseitigen Güter ist selbst erst wieder eine Bedingung für den Empfang der jenseitigen Güter. Wer diesseits nicht in das Erbe alles Verdienstes JEsu Christi

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 058. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/65&oldid=- (Version vom 1.8.2018)