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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und beschnitten sein, ehe Er zu dem großen Werke der Erkaufung und Auslösung aller Sklaven ausgesendet werden konnte. Durch diese Erinnerung und Zurechtlegung gewinnt der Text und Sonntag eine schöne Beziehung mehr, nemlich die auf den schon nahenden Epiphanientag, an welchem man auch der Taufe JEsu gedenkt, oder der heiligen Handlung Gottes, durch welche der Menschensohn zu Seinem Erlösungswerke ausgerüstet und ausgesendet wird. Dabei aber wird man durch die Stellung der Worte und den Character ihres Inhalts stark an eine Lehre erinnert, die bei uns selten vorgetragen zu werden pflegt, bei den alten Vätern aber, und zwar gerade wenn sie von der Geburt des Heilands predigen, mächtig hervorzutreten pflegt. Gott sandte Seinen eignen Sohn; niemand löst die Aufgabe, als Er allein; aber Er sendet den Sohn nicht in Glorie der Gottheit, auch nicht im Glanze der mit der Gottheit verbundenen Menschheit, sondern in der Gestalt eines gewöhnlichen jüdischen Kindes, vom Weib geboren und unter das Gesetz gethan. Der Held, welcher das Werk Gottes ausführen soll, geht also nicht mit aufgedecktem Angesicht, sondern eingehüllt und verborgen im Scheine eines gewöhnlichen menschlichen Looses. Ob Er gleich in einer Weise geboren und empfangen ist, die unerhört und völlig neu ist, und Seine Mutter vor, in und nach der Geburt eine Jungfrau bleibt, dieweil sie kein Mann erkannt hatte, so ruht doch durch die Begleitung des Nährvaters Joseph, in welcher Maria in Bethlehem ankam, und durch die öffentliche Vermählung mit diesem, auf dem Kinde der Schein einer gewöhnlichen menschlichen Geburt, und die am achten Tage erfolgende Beschneidung läßt nichts davon merken, daß der HErr des Gesetzes beschnitten wird, vielmehr scheint in ihr ein neuer Sklave der alten Vormundschaft gewonnen zu sein. Da also der ewige Sohn Gottes zu Seinem Geschäfte ausgieng, die Menschheit zu erlösen, kannte Ihn niemand. Die Juden sagten wol zuweilen, sie kenneten Seinen Vater Joseph, Seine Mutter Maria, Seine Brüder und Seinen ganzen Ursprung, aber Er trat auch einmal im Tempel, da sie ähnliche Reden führten, mitten unter sie hin und rief mit großartiger Ironie: „Ja ihr kennet mich!“ Er sagte es ihnen auch mehr als einmal mit dürren Worten, daß sie weder Ihn noch Seinen Vater kennen, Er war vor ihnen ein verborgener, und ebenso verborgen vor dem Teufel. Er gieng in Seiner armen G’stalt, gar heimlich führt Er Sein Gewalt, den Teufel wollt Er fangen.“ Während der Teufel und die ganze Welt es mit einem gewöhnlichen Menschen zu thun zu haben meinten, zumal ja der Sohn Gottes, um auf Erden Mensch zu werden, den Himmel und seine dortige Herrlichkeit und Anbetung nicht zu verlaßen brauchte, also dort keine Veränderung eintrat; gab es auf Erden eine Menschwerdung, die Schöpfung einer neuen unbefleckten Menschheit im Mutterleibe einer jüdischen Jungfrau, dazu eine Erniedrigung und Annahme der Knechtsgestalt. Die heiligen Engel gelüstete das Geheimnis zu schauen, die Teufel aber und ihre Welt ahnten und merkten nichts davon, und konnten auch aus dem Gloria der Engel über Bethlehem, das den bösen Geistern vielleicht nicht verborgen blieb, doch nicht abnehmen, was es für eine Bewandtnis mit dem Kindlein in der Krippe habe. Denn das ist der Fluch des Teufels und aller seiner Geister, daß sie den Heilsweg nicht faßen können, wie denn auch die in des Teufels Reich eingetretene Seele des Reichen durch den Eintritt in die Ewigkeit in diesem Stücke nicht weiser und klüger geworden ist, als in der Zeit. – Faßt man also den vierten Vers unsers Textes so auf, so kann man daraus wieder um eins mehr sehen, was für ein außerordentliches Werk das ist, die Unmündigen aus der geliebten Vormundschaft des Gesetzes und auch des Heidentums, der bösen Vormünder Israels und der dämonischen Herrschaft der Heidenvölker zu erlösen. Schwer ist das Werk, außerordentlich und einzig die Person des Meisters, der es vollbringen soll, und unwillig obendrein die Mündel, die nun in die Freiheit gehen und die Kindschaft genießen sollen. – Ach meine Brüder, das ist eine so jammervolle Sache, daß der Mensch sein eignes Heil am allerwenigsten versteht. Er soll die Kindschaft genießen, und will lieber ein geknechteter Sklave seiner Vormünder bleiben; der Sohn Gottes kommt in sein Eigentum, um es zu erlösen, und die Seinen nehmen Ihn nicht auf. Nachdem Er sich drei Jahre Mühe gegeben hat, sie wie Küchlein unter die Flügel der Mutterhenne zu sammeln, ruft Er mit Thränen vor den Thoren Jerusalems: „Sie haben nicht gewollt“. Sie gedenken es am Charfreitag böse zu machen, aber Er macht alles gut, und bringt ihnen für ihre

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 057. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/64&oldid=- (Version vom 1.8.2018)