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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

an Einfalt, an Vertrauen und Hingebung, wie auch der HErr es befiehlt, wenn Er sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen,“ – steht man der Welt gegenüber in der vollen Mündigkeit und Mannheit, und es wird offenbar, daß Gottes Kinder die männlichsten Männer sind. Das ist dann mehr als Kindereinfalt, denn es ist die Einfalt der Männer, die Kinder Gottes geworden sind. Das ist dann aber auch mehr als alles, was die thörichte, hochmütige Welt Freiheit und Mündigkeit nennt. Die Welt will groß sein und wird dabei zum Mündel und Sklaven; die Kinder Gottes ersterben alle Tage mehr in ihrem Hauch: Abba, Vater, werden immer kleiner und eben deshalb größer, immer ärmer, und eben darum immer würdiger, das Wort von ihrem Erbe zu vernehmen, das der HErr spricht: „Selig sind die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihr.“ –

 Hier bin ich am Schluße der Betrachtung! Ihr seid nicht mündig, denn ihr seid nicht kindlich. Noch seid ihr nicht eingegangen in den Vollgenuß der Gnaden, welche der HErr Seinem Volke schon hier verleiht, denn ihr habt den Geist der Kindschaft nicht aufgenommen. Ihr kümmert und freßt euch das Herz ab mit Erdendingen und merkt es nicht, daß das auch nichts anderes ist, als eine jämmerliche Schulplage und eine Quälerei mit den Elementen der Welt. Wenn ihr einmal euch darin ergäbet, weiter nichts zu sein als Christen und Kinder Gottes, und es faßen könntet, daß man damit nicht zu kurz kommt, so würdet ihr auch einmal frei werden, auf einen grünen Zweig kommen und in der elenden, irdischen Welt zu einem fröhlichen gedeihlichen Dasein kommen. So aber mistraut ihr Gotte, und euer ganzes Herz schwebt zwischen Furcht und Hoffnung, Freud und Leid in einem immerwährenden Wechsel. Gott gebe euch den Geist der Kindschaft, dann wird alles gut. Und wie Sein Sohn klein geworden ist am Anfang des Weges zu einem ewigen Erbe, so wünsch ich euch und mir am Ende, daß wir nur vor allen Dingen Gottes Kinder werden, uns keinem Irrtum, keiner Verführung mehr preisgeben, sondern nur purlauterlich an des Vaters Lippen hangen, Wort und Segen von seinen Lippen nehmen, und bis in den Tod hinein in Christo JEsu rufen:

Abba, lieber Vater! Amen.

Am Neujahrstage, als am Beschneidungsfeste des HErrn.

Galat. 3, 23–29.
23. Ehe denn aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahret und verschloßen auf den Glauben, der da sollte geoffenbaret werden. 24. Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum, daß wir durch den Glauben gerecht würden. 25. Nun aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. 26. Denn ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christo JEsu. 27. Denn wie viele euer getauft sind, die haben Christum angezogen. 28. Hie ist kein Jude noch Grieche, hie ist kein Knecht noch Freier, hie ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo JEsu. 29. Seid ihr aber Christi; so seid ihr ja Abrahams Samen, und nach der Verheißung Erben.

 SChon im Eingang der Predigt vom letzten Sonntage ist auf die Verwandtschaft des heutigen epistolischen Textes mit dem des bereits genannten Sonntags aufmerksam gemacht worden. Beide haben im Ganzen und Großen einerlei Fortschritt des Gedankens. In beiden handelt der erste Teil von dem Zustande der Unmündigkeit, der zweite von der Aufhebung der Unmündigkeit und der dritte von der Kindschaft.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/67&oldid=- (Version vom 1.8.2018)