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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sieh’ umher: diese alle versammelt kommen zu dir.“ Nun werden sie geschaut, die Schaaren, die da kommen, nun werden sie gemustert. Sind’s etwa Feinde, die herkommen, um die Stadt einzunehmen? Ist’s etwa wie in den Tagen Assurs und Babels? Nicht also, denn es leuchtet ja die Herrlichkeit Gottes über der Stadt, schirmt sie vor Feinden und ist Schirm und Schild gegen alles Böse. Die Bewegung ist friedlich, die Schaaren ohne Zahl kommen mit Freuden. Jerusalem ist eine Stadt, wo nicht blos die Stämme des Volkes Gottes zusammenkommen, sondern alle Völker der Heiden sich sammeln. Es ist wie eine Einkehr zu schauen. Die Kinder, scheint es, kommen aus der Fremde in die Heimat. – Der Prophet erklärt das sich entwickelnde Bild weiter: „Deine Söhne kommen aus der Ferne und deine Töchter werden auf den Armen getragen.“ Es ist die Menge am Meer, die sich nach Zion kehrt, die Macht der Heiden kommt zum HErrn nach Jerusalem: alle Kinder Japhets eilen herzu. Auch von Süden herauf kommt man, die Nachkommen Abrahams, nicht von Isaak, Midian und Epha und Saba, bekehren sich zu ihrem Vater Abraham und deßen echten Kindern. Wie die Kinder Japhets auf Gefährten und Schiffen daher fliegen gleich Wolken und wie die Tauben zu ihren Fenstern, so kommen die Leute von Süden auf Schiffen der Wüste, auf Kameelen und Dromedaren. Gold und Weihrauch und aller Reichtum der Welt wird mitgebracht und der Einzug der reichbeladenen Schaaren geschieht mit Lob und Preis. Kein Wunder, daß nun Zion erwacht und wonnevoll die Ankömmlinge begrüßt und den Lobsängern antwortet, die von den Bergen herein ziehen. Das beschreibt der Prophet in den beiden Textesversen: „Dann wirst du deine Lust sehen und ausbrechen und dein Herz wird sich wundern und ausbreiten, wenn sich die Menge am Meer zu dir bekehrt und die Macht der Heiden zu dir kommt. Denn die Menge der Kameele wird dich bedecken und die Läufer aus Midian und Epha. Die Läufer aus Saba werden alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des HErrn Lob verkündigen.“ – Bis hieher geht unser Text. O daß man hier abbrechen muß, da man doch erst unter den Pforten des herrlichen Kapitels und bei den Erstlingsfreuden Israels steht! Daß man nicht weiter lesen und betrachten und schauen darf, was es nun für eine Herrlichkeit und ein wunderliebliches Leben in Zion gibt, wo Heiden und Juden eins werden und eine heilige Kirche bilden unter dem Licht der Herrlichkeit des HErrn! Aber freilich, es soll ja aus der Weißagung eine Stelle gelesen werden, die zur Geschichte der Magier paßt, welche zum neugebornen Christus kommen. Und was kann da schöner passen, als Kameele und Dromedare der Pilger, die nach Zion kommen und der Schluß der Lection: „Sie kommen, Gold und Weihrauch bringen sie, und des HErrn Lob verkündigen sie.“ Passende, herrliche Wahl, zumal wenn sie recht verstanden wird!

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 Werden sich wol, meine lieben Brüder, die heiligen Apostel am ersten Pfingsttag, da St. Petrus in seiner Rede Apostelg. 2. die euch allen bekannte Weißagung aus dem Propheten Joel anführte, gedacht haben, daß an jenem ersten Pfingsttage die ganze Weißagung Joels hinausgegangen sei? Konnten sie das denken, wenn von Blut und Feuer und Rauchdampf die Rede war? Gewis nicht. Sie sahen den herrlichen Anfang einer Erfüllung, welche ferne Zeiten umfaßte, und wollten nicht blos auf sich und ihre Erfahrungen bezogen wißen, was der Geist auf alle Zeiten des Endes deutete und sagte. Gerade so auch hier. Werden sich jene alten, weisen Väter der christlichen Kirche, aus deren Händen die Wahl unsrer Texte hervorgieng, wol gedacht haben, daß die wunderschöne und selige Geschichte der Weisen von Morgenland die einzige Erfüllung der Weißagung Jesaiä im 60. Kapitel seines Buches sei? Die Weisen aus Morgenland mit ihrem Gold und Weihrauch und ihren Myrrhen, mit ihrer großen Freude und ihrem Lob des HErrn, sind Erstlinge und Herzoge; aber die Menge am Meer und die Macht der Heiden kann man an ihnen nicht erkennen, und ihre Kameele und Dromedare werden die heilige Stadt nicht bedeckt haben. Auch brach Zion bei ihrem Anblick nicht aus in Lust und ihr Herz breitete sich nicht aus, als sie kamen. Dazu kommen sie nicht nach Jerusalem, sondern nach Bethlehem, und ob sie gleich in einem Lichte wandeln, das von Zion stammt, so leuchtete doch noch nicht die Herrlichkeit des HErrn über der heiligen Stadt, sondern Finsternis und Dunkel bedeckete Jerusalem und Israel damals noch eben so wol, als die heidnischen Völker. Das alles ist so einfach und so unwidersprechlich, daß eine Auslegung des Textes rein auf die Weisen von Morgenland denjenigen eine

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 084. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/91&oldid=- (Version vom 1.8.2018)