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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

unmögliche Sache sein muß, die ihr Auge und ihren Verstand nicht durch alte und neue Ansichten von geistlichen Auslegungen haben blenden laßen. Nein, die Weisen aus Morgenland sind nicht blos ein Anfang der Erfüllung theurer Weißagungen Gottes, sondern sie sind selbst eine Weißagung und deuten mit ihrem einsamen Besuch bei JEsu, der wie ihr Stern bald Licht und Klarheit verlor, auf eine ferne große Zeit, deren mächtige und gewaltige Bewegung erst recht zeigen wird, wie groß der HErr ist, den die Hirten in der Krippe und die Weisen im stillen Häuschen trafen.

 Ich weiß, meine Brüder, wie viel Deutelei mit den Propheten je und je getrieben worden ist. Die mancherlei uneinigen, verwirrten Auslegungen der Propheten haben diese selbst in einen Ruf gebracht, daß sie dunkel und unverständlich seien, so daß diejenigen, welche die Notwendigkeit eines göttlichen Interpreten auf Erden für die ganze Kirche behaupten, siegreich sich auf die prophetischen Schriften berufen können. Die Propheten sind aber so klar und deutlich, wie andre Schriften des heiligen Geistes, wenn man einerseits die genügende Kenntnis der Geschichten der Könige Israels und Judas mitbringt, für deren Zeiten die Propheten redeten und schrieben, andrerseits aber die Schrift ungedeutet läßt und nimmt, wie sie da steht. Es ist ja freilich wahr, daß manch prophetisches Gesicht nur bildlich zu nehmen ist und der wahre Sinn daraus erst entwickelt werden muß. Wenn es z. B. im 23. Vers unsers Kapitels heißt: „Deine Sonne wird nicht mehr untergehen, noch Dein Mond den Schein verlieren“, so kann das freilich nicht wörtlich verstanden werden, weil ja der Mond den Schein gar nicht bekäme, wenn die Sonne nie untergienge. Es soll daher durch diese Stelle eben so wenig wie durch den 19. Vers, Sonne und Mond aus der Welt weggeleugnet und gesagt werden, daß Christus ohne Sonne und Mond die leibliche Welt erleuchten werde. Wo aber eine Stelle bildlich zu nehmen ist, da veranlaßt die heilige Schrift selbst dazu, während in den Stellen, in welchen das nicht der Fall ist, nicht Auslegung, sondern einfache Auffaßung deßen, das geschrieben ist, und treues Merken aufs Wort an der Stelle ist. Haben unsre Väter aus mancherlei Ursachen, sonderlich aber, weil sie wie auch wir noch in der Zeit lebten, da die klugen Jungfrauen mit den thörichten entschlafen sind, sich mit Auslegungen geplagt, so ist es gerade die Gnadengabe, welche uns Gott in diesen Tagen darbeut, die Offenbarung von den letzten Zeiten ohne Deutung aufzufaßen und dadurch in den Reichtum der Schrift und in die Herrlichkeit unsrer Hoffnung einzudringen. Wir brauchen am allerwenigsten bei unsrem Texte uns mit Deuten abzugeben, da gerade ohne Deutung nach dem Wort laut die prophetische Rede sich am schönsten mit dem Evangelium zusammenschließt, und uns eben dadurch die göttliche Theophanie oder Epiphanie nicht zu einer vergangenen und abgeschloßenen, sondern zu einer solchen Thatsache wird, die sich immer herrlicher, am herrlichsten aber am Ende entfaltet. Das laßt uns nun noch sehen.

 Die Geschichte, welche uns das heutige Evangelium berichtet, verhält sich zu der, die wir Jes. 60 durch den Geist der Weißagung zum Voraus geschildert finden, wie der Stand der Erniedrigung JEsu zum Stand der Erhöhung. Sie ist ausgezeichnet vor allem, was damals auf Erden geschah, sie ist wunderbar, man mag nun die Art und Weise ansehen, in welcher die Weisen durch einen Stern berufen und geführt wurden bis zum Neugebornen, oder man mag ihr inneres Licht und den Glaubensblick in Betrachtung ziehen, vermöge deßen sie in dem armen Kinde den HErrn der Herrlichkeit erkannten. Doch muß man gestehen, daß sie von demjenigen, was Jesaias berichtet, an Herrlichkeit übertroffen wird, wie eben der Stand der Erniedrigung JEsu durch den der Erhöhung. Denn am Ende der Tage, wenn Zeit und Stunde gekommen sein wird, das Reich Israel aufzurichten und am heiligen Lande und seiner angestammten Bevölkerung die Weißagungen in Erfüllung zu bringen, da wird JEsus Christus nicht mehr in der Gestalt des sterblichen Fleisches, sondern nach dem Zeugnis der Propheten in der Herrlichkeit Seines Vaters über Zion aufgehen und in der heiligen Stadt, wie in den Tagen des ersten Tempels, Seine Wohnung nehmen. Dann werden nicht mehr einzelne Weise, sondern Völker und Könige die Verbindung mit Israel suchen und Jerusalem wird die Mitte der Völker werden. Die augsburgische Confession hat gewis Recht, wenn sie die judaisirende Meinung verwirft, nach welcher am Ende der Tage eitel Heilige ein weltliches Reich haben werden. Da ist kein weltliches Reich zu erwarten, auch nicht

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 085. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/92&oldid=- (Version vom 1.8.2018)