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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ob bei ihm, wie bei dem mitgekreuzigten Schächer ein schneller Uebergang von Hohn zur Anbetung stattfand, − oder wie es sonst hergieng, daß er zum Preise und der Anbetung JEsu gelangte, das wißen wir nicht; aber daß er in der Stunde des Todes JEsu zur Anbetung kam, das ist offenbar. Als JEsus mit lautem Siegesruf und Jubel des Vollbringens Seine Seele Gott aufopferte und starb, da rief der Hauptmann, der dabei stand, dem Sterbenden gegenüber: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Wie muß der HErr am Kreuz gelitten haben, in welcher wunderbar schönen Weise muß Er gestorben sein, daß Sein Benehmen auf den Schächer, wie auf den Hauptmann diesen, gerade diesen Eindruck machen konnte! Jeden andern Eindruck konnte man eher als diesen erwarten. Daß Er bemitleidet und beweint, für heilig und unschuldig erkannt werden würde, das konnte man erwarten, ja man konnte es gar nicht anders erwarten. Aber daß Seine Gottheit so kenntlich und ergreifend durch all Sein Todesleiden durchleuchten, daß man aus Seinem Sterben gerade das Gegentheil, nämlich ewiges Leben und unvergängliches Reich und göttliche Majestät, mehr als alles andere erkennen würde, das ist doch wunderbar und anzubeten. JEsus Christus, gestern und heute Derselbe, und Derselbe in Ewigkeit: auch auf die Stunde Seines Todes paßt dieß Wort. Immer groß und herrlich, immer voll herablaßender, demüthiger Liebe ist der HErr, − immer, auch in der Stunde der tiefsten Erniedrigung, ja gerade da in überraschendem, wunderbarem Maße! − So groß und hehr ist Er, daß man geneigt wird in Seine Größe gerade zur Zeit Seines Todes sich zu versenken. Aber nicht von Seiner Größe ist zu reden, zu Seinem Tode ist zurückzukehren, denn daß Er so groß ist, und doch todt, das ists, was uns heute besonders ergreift. Man könnte um der Größe JEsu willen an Seinem Tode zweifeln, − man könnte es, je mehr man den heiligen Todten verehrt, desto weniger glaublich finden, daß Er sterben konnte. Und doch wäre das ein verkehrter Weg und ein eitler Gedanke. Eben im Tod ist JEsu größte Größe, ohne den Tod ist Er uns alles nicht, was Er uns sein will und soll, − und je gewißer wir wißen: „Er ist gestorben,“ − desto gewißer wißen wir auch, daß Er Sein Werk der Erlösung vollbracht hat, daß Er unser Heiland ist. Darum steigen wir gar nicht abwärts in der Betrachtung, sondern wir befestigen nur unsere Andacht und Anbetung, wenn wir unserem Texte weiter folgen, und uns durch das, was ferner gesagt ist, außer allen Zweifel an JEsu Tode setzen laßen.


 Nichts ist indes leichter zu erweisen, als der Tod des HErrn. Nehmen wir nur z. B. auf das Rücksicht, was unser Text enthält, so können wir schon daraus sichere Zeugnisse des wirklich erfolgten Todes entnehmen. Der Hauptmann, welcher mit aller Achtsamkeit des eben erwachenden neuen Seelenlebens gegenüber dem Kreuze JEsu stand, sah, daß Er starb, und als ihn hernachmals Pilatus um das Verscheiden JEsu befragte, gab er das Zeugnis Seines Todes. Maria Magdalena, Maria, des kleinen Jakobi und Joses Mutter, und Salome, die dem HErrn nachgefolgt waren, da Er in Galiläa war, und Ihm gedient hatten, und viele andere, die mit Ihm hinauf gen Jerusalem gegangen waren, standen von ferne und schauten zu. Gewis hatten diese alle am wenigsten Lust, JEsu Tod zu glauben, − am meisten Lust, ihn zu bezweifeln, und sie alle, wie wir aus dem ganzen Inhalt unsers Evangeliums und der gesammten Geschichte des Todes JEsu schließen müßen, zweifelten an Seinem Tode nicht. Nehmen wir zu diesen Zeugnissen unsers Textes andere hinzu. Denken wir insonderheit an jene Seitenwunde, welche dem HErrn geschlagen wurde, an den Stoß des Speers in den Leichnam JEsu, deßen Narbe noch am auferstandenen Leibe des HErrn so groß war, daß Thomas seine Hand darein legen konnte. Eine Wunde von dieser Größe rührt von einem tiefen Stoß her, von einem Stoße, der selbst dem gesunden Leibe tödlich geworden sein würde, geschweige dem gekreuzigten, von namenlosen innern und äußern Leiden ermatteten. Denken wir endlich an die ernsten Männer, die Ihn begruben, deren Augen, geschärft von der innigsten Sehnsucht nach Seinem Leben, jede nur leise Spur der noch vorhandenen Seele erspäht haben würden, aber nichts fanden, als die thränenreiche Gewisheit des Todes JEsu. Sollte aus solchen Betrachtungen nicht unsre Gewisheit des Todes JEsu stark und mächtig emporwachsen? Wenn aber auch alles das nicht hinreichen würde, so wüßte ich eines, das will ich euch nicht verhalten, meine theuren Brüder, weil es mir eine unwiderlegliche Beweisstelle des Todes JEsu ist. Ich meine jenes Wort des HErrn, welches zwar

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/186&oldid=- (Version vom 28.8.2016)