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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Wort von Ihm, dem Anwesenden, nicht bloß ein leeres Wort sein, gemacht und tüchtig, im Geiste der Hörenden mancherlei Gedanken zu erzeugen, wie das durch andere menschliche Reden geschieht. Es ist vielmehr eine lebendige Kraft im Worte, welche eine lebendige Erkenntnis erzeugt und das Herz brennen macht und mit himmlischer Freude erfüllt. Was ist es doch, meine Freunde, was uns die Schriften des heiligen Apostels Johannes so außerordentlich anziehend macht, wodurch sie sich, wenn wir sie hören oder lesen, unsrer Seelen so gewaltig bemeistern? Es ist wahr, es ist in ihnen der Ton einer Einfalt und Liebe, die nicht von dannen, sondern vom Himmel sind; aber woher diese Einfalt, diese Liebe? Es ist nicht die Einfalt des Kindes, sondern die eines Seraphs, und die Liebe ist nicht Liebe von der Art, wie sie die Welt hat und gibt, sondern Liebe, wie sie um den ewigen Thron des gebenedeiten Gottessohnes blüht. Es ist die Einfalt des seligsten Besitzes, welche in der Einfalt der Rede wiederscheint, und die Liebe zu dem Einen, an deßen Brust der liebende Jünger im Abendmahl gelegen, ist es, welche die Sprache der Liebe erzeugte. Einfältige Liebe zu dem Einen JEsus, welcher ist wahrhaftiger Mensch, aber auch wahrhaftiger Gott und das ewige Leben, das ist es, was aus Johannis Munde redet und die Geister zwingt, die Geister der Menschen, welche ja alle nur in die Welt kommen, um zu Johannis geliebtem HErrn zu gelangen und zu der Brust, wo er gelegen ist. Und was ist es, wovon St. Paulus an vielen Stellen seiner Briefe flammt und blitzt? Es ist nichts anders, als die Liebe zum Sohne des Vaters, zum Menschensohne, − die helle Erkenntnis der allerheiligsten Person des HErrn macht ihn so alles Lebens und aller Kräfte voll. Und noch, noch jetzt, meine Freunde: was ists heute noch, worin der lauterste und erhabendste Christencharakter besteht? Ist es nicht die volle Erkenntnis und Anbetung der göttlichmenschlichen Person des HErrn? Der feiernde Wandel vor dem Erkannten und Seinem Angesichte? Nicht die Beugung des Sünders, welche jeder Christ als beständiges Eigentum besitzt, − nicht die Freude der Rechtfertigung, welche zuweilen, seltener, öfter, das Herz der Gläubigen durchgeht, sondern die volle, unbeschränkte Hingabe der Seele an die Person JEsu Christi, das persönliche Nahen und Verbundensein der Seele und ihres ewigen Bräutigams, der Seelen anbetende, immer zunehmende Aufopferung an Ihn, in welcher alle niedrigeren Stufen geistlichen Lebens zusammengefaßt und vereint sind: das ist das herrlichste Christenwesen und Leben. − Zwar schauen wir hier nicht Sein Angesicht und in des Sohnes Angesicht das offene Herz des Vaters; Seiner Hände heiliges Aufheben zum Segnen und Brechen des Brotes, der Ausdruck Seines Auges, die Pracht Seines verklärten Leibes wird von uns nicht geschaut. Das ist uns noch aufgehoben, das wird uns alles werden, wenn wir nun bald zu den Tischen Seiner ewigen Freude gerufen werden. Indes gibt es doch auch für uns eine Erkenntnis des Sohnes Gottes, die hinreicht, brennende Herzen zu schaffen, und eine persönliche Verbindung mit Ihm, die über allen Zweifel erhaben und zur vollsten Gewisheit geworden ist, − die, wenn auch, gleich dem Monde, nicht allzeit eines Maßes von Glanz und Licht, doch schon der Anbruch des ewigen Tages ist und ein Beweis, daß der HErr auferstanden ist, gesiegt hat, auf Erden, wie im Himmel ist, und mit den Seinigen ein verborgenes Leben der Freuden lebt. − Wenn Jünger, die jetzt leben, das erfahren, dann sind sie auch reich genug zum Ostergruß, dann wird ihr Leben hier dem Leben der ersten Jünger gleich, da sie vierzig Tage lang mit einander von der Freude Seiner Auferstehung lebten und ihr ganzes Herz von dem Gedanken erfüllt: „Der Bräutigam ist nicht mehr genommen, Er ist auferstanden, Er ist unser auf ewig.“


 Ein wenig inne halten laßt uns, geliebte Brüder, ehe wir weiter gehen. Nicht eine völlig andere Gedankenreihe wollen wir jetzt beginnen, wir bleiben vor Seinem Angesichte, wir reden auch ferner nur von Ihm. Aber ins Einzelne solls gehen, und von dem allgemeinen Eindruck solls zum Bemerken kommen, und die einzelnen Bemerkungen sollen zu nichts anderem dienen, als Sein heiliges Gedächtnis und das Lied von Seiner Auferstehung in uns desto beständiger und dauernder zu machen. Ich will euch meine einfachen Gedanken sagen und prüfende Christenseelen unter euch mögen entscheiden, ob ich recht, ob falsch rede.

 Was ich zuerst an unserm HErrn JEsus Christus sehe, ist Liebe, lautere, heilige Hirtenliebe. Seine Größe ist so unaussprechlich, und doch naht Er

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/197&oldid=- (Version vom 28.8.2016)