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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

seligmachend wirkt Sein heiliges Wort auf alle, welche nur kein unnatürlich Widerstreben ihm entgegenstellen; denn das natürliche Widerstreben überwindet das Wort bei treuen Hörern. Ist doch der Weg des Lebens so leicht! Wie Schafe dem Hirten nach Weide und frische Waßer, so finden die Menschen ihrem Hirten nach, im Gehorsam Seines heiligen Wortes vollkommene Genüge. Ist es schön oder nicht, Christo und dem Zuruf Seines Wortes nachzuwandeln und vollkommenes Leben mühelos, unter Seiner Leitung zu finden? Das Böse macht Mühe, wem hätte jemals das Gute Mühe gemacht? Der es übt, dem ists leicht: was schwer ist, ist nur die Ueberwindung des Widerstandes. Ach, daß man sich Seiner Stimme, Seiner Leitung übergäbe und also hinzugezählt würde zu Seiner Heerde!


 In unserm Texte steht, meine Brüder, noch ein Wort, ich habe es bisher nicht berührt. Ich achte, ich könne nur wenig davon reden, denn es beschreibt uns die höchste Seligkeit der Heerde und zwar in einem Gleichnis von unaussprechlicher Herrlichkeit. „Ich bin ein guter Hirte, sagt Er, und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie Mich Mein Vater kennet und Ich kenne den Vater.“ Welche Worte! Sie erinnern an jenes Gebet des ewigen Hohenpriesters, das Er in der Nacht gesprochen hat, da Er verrathen ward: Ich in ihnen und Du in Mir, auf daß sie vollkommen seien in eins und die Welt erkenne, daß Du Mich gesandt hast, und liebst sie, gleichwie Du Mich liebest“ (Joh. 17, 23.). Wenn ich Eingangs sagte, daß der HErr alle Zerstreuung und alle Trennung auf Erden aufheben wolle, so war schon das eine Freudenbotschaft, wenn ich hernach von dem Hirten sagte, welcher den Feind des Friedens überwältigte, die Menschheit erlöste und Seine Schafe zu einer Heerde zusammenführte, auch das war, ja gewis das war ein seliges Evangelium. Aber wer hätte gedacht, daß das Werk des HErrn bis zu einer solchen Seligkeit der Menschen ausschlagen sollte, daß sie nicht allein miteinander, sondern mit dem Hirten selber und mit Gott im Himmel vereinigt und sogar Eins werden sollten? Himmel und Erde wird vereinigt, Gott nimmt Seine erlöste Creatur an Seine Brust in Christo JEsu, dem Hirten! Durch Christum wird alle Trennung aufgehoben, auch Gottes und der Sünder, − und eine selige Einigkeit, da Gott ist alles in allen, nimmt zu unter dem Hirtenstabe des Hochgelobten! Und zu einem solchen seligen Wesen zu kommen sollte man versäumen? Man kann es erreichen, wenn man die Stimme des Hirten hört, und man sollte nicht hören?!


 Brüder! eine Seele nach der andern verschließt ihr Ohr vor der Stimme der Miethlinge und öffnet es der Stimme des guten Hirten. Wer von uns fehlt noch bei der gehorsamen Heerde, deren ganze Tugend in dem seligen Hören und Gehorchen gegen den hochgelobten Hirten besteht? − Eine nach der andern vernimmt den seligen Zuruf des heiligen Apostels: „Ihr waret wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen“ (1. Petr. 2, 25.). Gilt sie denn nicht bald auch uns allen, die wir hier in diesem Hause miteinander den Namen anrufen, der aller Welt Heil verspricht? − Eine nach der andern hört wonniglich den Ruf des Hirten: „Ich erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen;“ und beantwortet sie mit seliger Zuversicht nach den Worten des Liebesliedes aus dem Himmel: „Mein Freund ist mein und ich bin sein.“ Wann werden auch wir Zuversicht und gut Gewißen haben, ohne Anmaßung, in tiefer Demuth JEsu Wort von der Bekanntschaft mit den Seinigen zu hören und es mit der Stimme der Braut zu beantworten? − Die Kirche wird immer vollzähliger, es sammelt sich dicht um den Thron des Lammes, des guten Hirten. Wie lange wirds dauern, so fehlt von den tausend mal Tausenden, die St. Johannes gesehen hat, keiner mehr und die Zahl der Auserwählten wird voll sein: werden wir dann fehlen? werden wir ausgeschloßen sein? werden wir dem überwundenen Feinde Christi hingegeben sein − und das Angesicht des Hirten ewig nicht schauen dürfen, der auch für uns gestorben ist? Ach, das sei doch ferne. Das sei eine Befürchtung, die da lüge, die da Platz mache dem Frieden, der Zuversicht, der Freude der Gläubigen und der Seligkeit der Schafe, die da Sein sind! Ach HErr, barmherziger, gnädiger Heiland, der Du gesagt hast: „Ihr habt Mich nicht erwählet, sondern Ich habe euch erwählet,“ bekehre Du uns, so werden wir bekehret, heile Du uns, so sind wir geheilet, − hilf Du uns, so ist uns geholfen! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/212&oldid=- (Version vom 4.9.2016)