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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

es laßen sich die Schmerzen und die Noth des Lebens nicht wegleugnen, welche so schwer auf Millionen, ja auf allen Menschen liegen. Wer kanns verneinen, was die Kirche in der Auslegung der siebenten Bitte sagt, daß dies Leben ein Jammerthal sei? Aber es fragt sich nur, ob das Leid oder die Freude den Grundton im Christenleben anzugeben haben, und ob also das Leben mehr eine Leidens- oder mehr eine Freudenzeit des Christen genannt werden müße. Da wird denn doch bei genauer Erwägung die Freude einen gerechteren und mächtigeren Anspruch haben, der Lebenszeit des Christen den Titel zu geben, als das Leid. Das Leid ist da, aber nur als Ueberrest der Sünden und Sündenzeit, die Christus versöhnt hat; die Freude aber ist da als Vorschmack des Himmels, dem wir entgegen gehen. Das Leid ist das Vergängliche, das sich von Tag zu Tage mehr verzehrt; die Freude hingegen ist die Lust der Ewigkeit, die uns immer voller entgegenströmt, je mehr wir ihr entgegen gehen. Es ist das ganze Leid nur auf die arme, kleine Spanne dieser Lebenszeit ausgedehnt − und über ein Kleines ist sie nicht mehr da! Unser äußerlicher Mensch verwest je länger je mehr, unser innerlicher wird von Tag zu Tag verneuert. Unser Heil ist näher, als da wir anfiengen, es zu glauben, − und am Abend, da wirds Licht werden, wenn sich die Aussicht auf den nahen Himmel und auf die kommende Auferstehung öffnet!

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 Und dann, meine Brüder, das wollen wir nicht vergeßen! Was ist, schon während wir hier wallen, das stärkere, Leid oder Freude? Ist nicht die Freude von oben und das Leid von unten? Ist nicht stärker, was von oben kommt, als was von unten kommt? Was kann, was wird, was soll geschehen: soll das Leid die Freude vergällen oder die Freude das Leid versüßen? Ohne Zaudern und Zagen sag ichs, und ich schwärme nicht, wenn ichs sage. Ich bin nüchtern und der ists nicht, der mir darin widerspricht: „Die Freude ist Meister!“ Es würden mir alle beistimmen, wenn sie mehr ihr Leben begriffen in der Aehnlichkeit des Lebens Christi, wenn sies mehr, als es geschieht, erkenneten und führeten als einen Hingang zum Vater und zum Sohne. Wenn man, meine Freunde, das Leben nur nach dem Gelingen des irdischen Berufs, je nach dem Besitz vergänglicher Ehren, Freuden oder Güter beurtheilt, wenn man irdisch gesinnt ist, es mit einem Worte zu nennen, dann herrscht Kummer und Betrübnis vor. Wenn man aber Ziel und Zweck des Lebens auf Erden gar nicht findet, wenn man seine Anker hinter dem Vorhang, der die Ewigkeit verhüllt, eingeschlagen hat, wenn man ewigen Freuden entgegen lebt und strebt; dann bekommt das Leben eine ganz andere Gestalt: es wird zur Fremde, zur Pilgrimschaft, zur Wallfahrt, das Leid des Lebens wird zu einer Anfechtung, welche die Sehnsucht nach dem Ewigen desto kräftiger erweckt, und der Fleiß, hineinzukommen zur ewigen Ruhe der Heiligen, ja nicht dahinten zu bleiben, erhält das fröhliche, frische Streben bis zum Grabe. Es liegt alles daran, daß wir vorwärts leben, und unser Glück im unsterblichen Leben sehen, daß wir erkennen, zum HErrn zu kommen, Ihn zu schauen, gleich Ihm verklärt, von Ihm beherrscht zu werden und mit Ihm zu herrschen, − dazu seien wir geboren, dazu leben, dazu sterben wir. Manch alternder Mensch hat seine ganze Freude rückwärts; wenn er sich ergötzen will, muß er die Erinnerung vergangener Tage heraufrufen: da freut er sich einen Augenblick an den Schattenbildern seiner Jugend und kehrt dann trauernd auf den Dornenpfad seiner Wirklichkeit zurück. Ganz anders der Christ. Der streckt sich nach dem, das da vornen ist, nicht nach dem, das da hinten ist. Jenseits ist sein HErr. Den lernt er kennen aus Seinem Worte. Den sieht er durchs Leiden des Todes zur Herrlichkeit dringen. Von Seiner Auferstehung, von Seiner Himmelfahrt, von Seiner Glorie, wie die Offenbarung Johannis sie beschreibt, liest er. Und das alles mit dem seligen, hoffnungsvollen Bewußtsein, daß er Ihm gleich werden soll, daß er auch durchs Leiden des Todes ins Paradies, zum Sieg der Seele, zur Auferstehung, zur Himmelfahrt, zum unaussprechlichen Glück der Ewigkeit, zur Vereinigung mit allen Gottesheiligen kommen soll. Da wird er, je älter er wird, desto jünger, desto fröhlicher, weil er ja dem Ziele näher kommt, − und wenn er kranket und leidet, da wird es ihm festlich zu Muthe, denn es winkt ja die Möglichkeit stärker heran, aufgelöst zu werden, außer dem Leibe zu wallen und heim zu kommen zum HErrn. Seht in die ersten Jahrhunderte der Christenheit, meine Brüder, leset, wie die heiligen Märtyrer so fröhlich, so todesmuthig und todeslustig gewesen sind; wie sie Feuer und Mordstahl segnen, wie sie den Tod

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/217&oldid=- (Version vom 4.9.2016)