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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ihre Geduld aufrecht; der HErr hofft nicht blos zu finden, sondern Er weiß, daß Er findet, und in so fern ist Sein Suchen viel ruhiger, ohne jene ängstliche Spannung, welche dem Hirten und dem Weibe das Suchen zu einem Leiden macht. Mit dieser Bemerkung, daß Er ruhiger, sicherer, zuversichtlicher sucht, soll übrigens nicht gesagt sein, daß des HErrn suchende Liebe und Erbarmung weniger heiß und brünstig sei. Im Gegentheil, wir sind auf dem Wege, die Glut Seiner Liebe weit, himmelweit über die Liebe eines jeden suchenden Menschen zu erheben. In die Hoffnung des suchenden Hirten und Weibes mischt sich, wie wir bereits vernahmen, eine ängstliche Spannung, welche ihren Grund in der Möglichkeit hat, daß man vielleicht auch nicht findet, was man sucht. In des HErrn Suchen mischt sich keine Angst, denn Er weiß, wen Er finden wird, wer sich wird finden laßen, Er sucht in tiefster Ruhe, mit aller Zuversicht. Aber − und das ist die wunderbare andere Seite − Er weiß auch, wer und wie viele sich nicht werden finden laßen, an wem und wie vielen Sein treuer Fleiß des Suchens keine Frucht bringen wird − und Er sucht doch auch diese, sucht sie unermüdet, sendet ihnen einen Boten Seiner Liebe um den andern, Boten im rosigen Gewande des Friedens und der Freude und Boten im Trauergewande und im rauhen Kleide Eliä, läßt sich durch nichts ermüden, weiß auf tausenderlei Wegen zu nahen − und hört nicht auf, so lange der Hauch in der Brust des Verlorenen aus- und eingeht; ja, je näher das Ihm wohl bewußte Ende des Laufes hier auf Erden, desto eifriger wird Er, desto dringender naht Er, ruft Er, sucht Er, − und weiß doch, daß Er nicht erhört wird mit Seinem Ruf und nicht erkannt, nicht aufgenommen in Seiner Liebe. Das begreife, wer kann! Welcher Mensch strengt seine Kraft an, wenn er zuvor weiß, daß er sie vergeudet? Das ist nicht menschlich, das ist göttlich, lieben und es nicht laßen können und mit Liebe den Verlorenen verfolgen, bis er jenseits des Todes, im Lande des Schauens nicht mehr dem Erbarmen, sondern dem gerechten Gerichte Gottes anheimfällt. Was ist das, o liebe Brüder, für eine Liebesglut des HErrn JEsus, die gleich der Sonne alle Menschen bescheint, die in die Welt kommen, vor deren Hitze wie vor der Sonnenhitze nichts verborgen bleibt! Dieser Liebesglut entziehe sich keiner, und wer sich bisher entzogen hat, entziehe sich nicht mehr, sondern laße sich finden und lohne dem ewigen Erbarmer − ach wie red ich! lohne Ihm durch Annahme Seiner Barmherzigkeit, mach Ihm die Freude des Findens.

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 5. Von dieser Freude des Findens haben wir, theure Freunde, noch einiges zu reden[.] Ihr erinnert euch des Gleichnisses von dem verlorenen Sohne, welches in unserm Textcapitel unmittelbar auf das heutige Evangelium folgt. Schon in diesem Gleichnisse ist die Freude über das Wiederfinden des Verlorenen mit starken Zügen und Farben gemalt. Jedoch da möchte man noch eher der Verwunderung sich entschlagen. Es ist ein Vater, der seinen Sohn wiederfindet. Auffallender aber ist diese Freude über das Finden des Verlorenen in unserm Evangelium geschildert. Ein Hirte findet ein Schaf, ein Weib findet einen Groschen − und doch ist die Freude, welche dies Wiederfinden erregt, so groß, als nur immer die Freude bei dem Wiederfinden des verlorenen Sohnes beschrieben wird. Und wer ist nun das Schaf oder der Groschen? Verlorene, sündenbeladene, fluchwürdige Menschenkinder sind es, die gegenüber ihrem Schöpfer und Erlöser nicht werth sind, Söhne oder Töchter genannt zu werden: Schafe, Groschen möchten sie viel eher genannt werden dürfen, das bezeichnet viel treffender ihren himmelweiten Abstand von dem, der da sucht. Und doch ist über sie bei ihrem Finden eine so große Freude, eine Freude, welche von dem HErrn auf das Finden eines Schafes oder Groschens absichtlich übergetragen wird, damit sie an diesen Beispielen desto auffälliger sei, desto beschämender und lockender auf uns arme Schafe wirke. Wer hätte, wenn wir nicht solche Versicherungen hätten, jemals wagen dürfen, der verlorenen Menschenseele einen solchen Werth in den Augen Gottes beizulegen, daß Gott der HErr sich über ihr Finden freue, daß ihre Heim- und Wiederkehr eine Ursache göttlicher Wonneerregungen werden könne? Und nun diese Freude, wie sie unser Evangelium beschreibt! Nehmt doch der Worte war, welche gebraucht werden, und erwäget sie in eurem Herzen. Der Hirte legt das wiedergefundene Schaf „auf seine Achseln mit Freuden“ − und warum? Gewis nur, um es zu seinen übrigen Schafen zu bringen und es fortan mit ihnen zu leiten und zu weiden. Was liegt nur alles schon in der Anwendung dieser Worte auf JEsum und auf uns! Wiedergefundene Schafe auf den Achseln JEsu, von Ihm zu Seiner Heerde getragen: wer sollte ihr Looß nicht überschwänglich finden! Wie

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 027. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/366&oldid=- (Version vom 1.8.2018)