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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

er da und ist er gesetzt vor dem Angesicht des menschlichen Geschlechtes. Er liegt offenbar, merkbar, hoch, breit und groß, ein Fels Gottes, dem niemand ausweichen kann, nachdem er einmal von Gottes Hand auf den Plan der Weltgeschichte hingelegt und gesetzt ist. Es wird in der Macht keines Menschen sein, vor ihm das Auge zu schließen, ohne irgend einen Eindruck von Ihm empfangen zu haben; keiner wird über Ihn urtheilslos bleiben und an Ihm vorübergehen können, ohne eine Aenderung zum Heil oder zum Verderben zu erfahren. Wie der Magnet das Eisen an sich zieht, so zieht Christus die Seelen der Menschen unwiderstehlich an. Vor Ihm macht jeder Halt, an Ihm entscheidet sichs für jeden. Die Menschheit ist wie ein Strom, welcher sich an Christo, dem Felsen, brechen und zweiteilig weiter strömen muß. Er ist ein Scheideberg und Mittelpunkt in der Geschichte der ganzen Welt und aller ihrer Völker, von dem das einige Loos und Ergehen aller und jeder ausgeht. An Ihm fallen die einen, um nimmer wieder aufzustehen, − und die andern stehen an Ihm auf, um nicht wieder in Noth und Tod dahinzufallen. Zwar ist in Adam das ganze menschliche Geschlecht gefallen, aber die Folgen dieses Falles sind nicht unabwendbar, nicht unheilbar: Christus ist gesetzt, damit man sich von diesem Falle in Vergebung und Frieden Gottes erhebe. Wer aber am Fall in Adam nicht genug hat, sondern auch in Christo fällt, statt an ihm aufzustehen; der thut einen Fall, von dem ihm niemand aufhilft. Was soll dem helfen, dem die einzige, und noch dazu allmächtige Hilfe vergeblich dargeboten wird? Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden, als allein der Name unsers HErrn und Heilandes JEsu Christi! − Was ist nun das für ein gewaltiger, ernster, gnadenreicher, heiliger, einziger Beruf, allen Menschen zu einer ewigen Entscheidung gesetzt zu sein? Wie verschwindet gegen ihn jeder andere und wie klein ist gegen diesen Menschen JEsus Christus jeder andere Mensch! Und wie hehr und erhaben muß in den Augen des heiligen Simeon dieser Mensch schon als Säugling gewesen sein!

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 Freilich ein Mann dieser Art kann bei den Menschen nur eine sehr verschiedene Aufnahme finden; es kann nicht anders sein, er muß die entgegengesetztesten Erfahrungen unter ihnen machen. − Es gibt Menschen, welche bei andern weder viel Liebe, noch viel Haß ärnten: andere dagegen erfahren starken Haß und starke Liebe. Je größer der Mann, je kenntlicher sein Ziel, je völliger sein Streben nach demselben ist, desto mehr gehört er zu den Menschen der zweitgenannten Art. Auch Christus, Christus vor andern, vor allen gehörte und gehört noch dazu. Wie sollte es auch anders sein können? An Ihm bricht sich der Strom der Menschheit zu ewigem Wohl und Wehe, darum auch zu ewiger Liebe und ewigem Vermeiden. An Ihm steht oder fällt ein jeder; so muß ein jeder Christi Feind oder Freund sein! Die tiefsten Kräfte aller Seelen gehen aufgeregt empor, wenn Christus den Herzen annaht. An Ihm werden der Herzen Gedanken offenbar − und Er ist darum, so gewis Er ein Fels der Entscheidung ist, auch ein Zeichen, dem widersprochen wird. Seine Freunde loben und preisen Ihn in aller Welt; sie sind aber auch „eine Secte, der in aller Welt widersprochen wird.“ Es ist ein Geschrei von Ihm, für Ihn, wider Ihn seit achtzehn hundert Jahren, das Seine Freunde nicht ertragen würden, wenn sie nicht wüßten, daß aus diesem tobenden Chaos die heilige Schaar derjenigen siegreich hervorgehen wird, die mit harmonischem Lobgesang Ihn ewig feiern sollen als den Fels des Heils. Wahrlich, sie würden den Widerspruch und das Geschrei ohne dieß Wißen nicht ertragen, denn, Freunde, der Widerspruch gegen Christum thut Seinen Freunden weh und um so weher, weil sie wißen, daß den beständigen Widersprechern selbst kein Heil davon erblüht. Die heilige Gottesmutter hat das Weh des heillosen Widerspruchs zum Vorbild uns andern allen in besonderem Maße erfahren. Sie stand unter dem Kreuze des HErrn, sie sah Seine Wunden, sah Ihn bluten und leiden, sah Ihn sterben, sah die Welt in ihrem Widerspruch, hörte das Hohngelächter und den Spott der Pharisäer und Hohenpriester und Schächer. Ach, wie gieng es ihr zu Herzen, wie erfüllte sich Simeons Wort, wie drang es ihr gleich einem Schwerte durch die Seele! − Aber, und das wollen wir bei diesem Evangelium nicht vergeßen, − dieser Schmerz Mariens, dieser Schmerz der Seinigen, welcher nur ein Wiederhall Seiner Schmerzen ist, und das Siegsgeschrei der Welt sind nichts Bleibendes. Er selbst, Christus der HErr, bleibt immer, am Kreuz und auf dem Throne, das einzige Heil der Welt, der Fels, an welchem alle unsre Traurigkeit, all unser Schmerz in

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 044. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/55&oldid=- (Version vom 22.8.2016)