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 Was hilft’s, zu wissen, daß ER mächtig ist, Wind und Meer zu zwingen, den Wind in Seine Faust, das Wasser in ein Kleid zu fassen, wenn man bei dieser Wissenschaft dennoch im Meer und Sturm der Sünde verloren geht? Was hilft’s, sich mit der lebendigsten Phantasie jede Gebärde des HErrn und Sein liebes Angesicht vergegenwärtigen, wenn zur Zeit, da die Bäche Belials an unser Schiff schlagen, und wir ins Todesmeer und auf die hohe See der Ewigkeit kommen, und kein Christus das Schifflein rettet, die See bezwingt, die Stürme stillt und uns ans sichere Gestade Seines Himmels trägt! Seelen, Seelen! Ihn anstaunen. Ihn bewundern rettet nicht, sondern unsere Verwunderung über Seine Größe muß uns zur Verwunderung über Seine Erniedrigung leiten – das Kreuz auf Golgatha, wo ER, unter die Missethäter gerechnet, eines schimpflichen Todes stirbt, ist der Mittelpunkt, wohin wir steuern. Eher dürfen wir nicht ruhen, bis wir da angelangt sind! Denn da hängt ER, da bereitet ER Ruhe unsern Seelen für die größten Stürme, nämlich für die Stürme des Todes und des ewigen Gerichts! Da bereitet ER Vergebung und Leben den armen, schuldbeladenen Menschen!

 Die Thaten auf dem Meere, alle Wunder des HErrn hatten schon zu Seinen Zeiten keinen andern Zweck, als auf Ihn aufmerksam zu machen und die Augen aller auf Ihn zu richten, wenn ER nun erhöhet würde von der Erde, daß ER sie alle zu sich zöge! Also Seine sterbende Liebe zu erfahren und Ihn wieder zu lieben bis in den Tod, Brüder, das ist’s, was wir auf Erden zu thun haben. Ein Tropfen Seines für uns vergossenen Blutes, ein Wort von der Erlösung und Vergebung der Sünden, eine Verheißung ewiger, unabänderlicher Gnade ist mehr wert fürs arme Herz der Zerschlagenen, für welche eigentlich gepredigt wird, als eine Aufzählung aller Wunder und die Wissenschaft vom ganzen Leben des HErrn.

 Also, wer wahrhaft für seine Seele sorgen will, öffne seine Augen und sehe nicht in die See, sondern ans Kreuz! Wen seine Sünden kränken, wer eines andern als seines bisher geführten Lebens teilhaftig werden möchte, wer