Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/27

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Augen, keine Ohren haben müßen, wenn sie nicht die höhere Würde JEsu, sei es auch in noch so unbestimmten Umrißen erkannt hätten. Wenn uns, die wir lesen und uns alles erst vergegenwärtigen müßen, die Leidensgeschichte des HErrn zur Verehrung, ja Anbetung Seiner allerheiligsten Person, nicht bloß zur Ahnung, sondern zur Erkenntnis Seiner übermenschlichen, göttlichen Würde bringen kann; sollte denn das Anschauen der ganzen Geschichte von der Gründonnerstagnacht bis zum Charfreitagsmorgen, das Anhören Seiner Reden, das Miterleben und Erfahren aller der Dinge, die doch von einem höheren Lichte strahlten, weniger Wirkung und Eindruck gemacht haben, als das Lesen? Hatten die Juden, die Priester, die Aeltesten nicht aus allem, was vor ihren Augen und Ohren vorgieng, wißen können, daß eine Behandlung, wie sie dem Allerheiligsten widerfuhr, die Misbilligung Gottes und in der Folge aller Menschen erfahren mußte, daß sie im höchsten Grade sündlich war? Ich dächte, es müßte allen bei dem Vorgang auf Golgatha, beim Eintritt in die Kreuzigungsgeschichte Herz und Gewißen schwer geworden sein, und sie hätten in einem gewissen Sinne und Maße nicht bloß wißen können, sondern wißen müßen, was sie thaten. Dennoch aber bezeugt JEsus Christus selber und späterhin nach Pfingsten im Lichte des heiligen Geistes auch Sein Apostel Petrus, daß die Juden wirklich aus Unwißenheit gehandelt hätten, und so schwer wir ihnen daher ihre That und ihr Vergehen auf das Gewißen legen müßen, so schuldig sie waren, sie, die da riefen: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“; so müßen doch auch wir den Weg des HErrn am Kreuze betreten, und, weil Er uns vorangegangen, zur Entschuldigung die Unwißenheit suchen,