Seite:Wilhelm Löhe - Sieben Vorträge über die Worte JEsu Christi vom Kreuze.pdf/33

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Gebet. Wie hat Er für die Seinen, für Seine Kirche und ihren Zuwachs am Abend vorher gebetet, welch ein hohenpriesterliches Gebet lesen wir Joh. 17! Aber steht demselben nicht würdig zur Seite dies erste Wort vom Kreuze, dies hohenpriesterliche Gebet für Sein verblendetes Volk, das zwar kurz von Worten, aber mächtig von Nachdruck, ohne hohenpriesterliche Gewande, aber unter den triefenden Wunden des Opferleibes und unter Versöhnungsschmerzen zum Himmel aufsteigt! O meine Brüder, was sind das für Worte: Vater vergib, denn sie wißen nicht, was sie thun. Jeder Theil dieses Satzes ist unaussprechlich an Größe und Schönheit, und alle zusammen bilden ein Ganzes, Ein Gebet, von dem ich nicht weiß, ob ich mehr die Einfalt und nüchterne Ruhe oder die Hoheit und flammende Inbrunst rühmen soll. Da hängt Er im ersten Schmerz mitten unter den Uebelthätern, von Menschen, von Seinem Volke, nicht vom ungerechten Richter selbst unter sie gerechnet! Was habe ich dir gethan, mein Volk, so konnte Er rufen, daß du mir also begegnest, mich also von dir aus dem Leben treibst? Aber so ruft Er nicht, so äußert sich das Gefühl Seiner Unschuld nicht, sondern mächtiger und größer. Sieh hin, Seine flehenden Augen heben sich zum Himmel, Seine heißen Lippen spalten sich, Er ruft. „Vater.“ Was liegt in dem Wort für ein Gewißen, für ein gutes Gewißen, für ein unbeirrtes, für eine Heiligkeit, für eine Majestät! Sie haben Ihn unter die Uebelthäter gerechnet, aber er nennt Gott im Himmel Seinen Vater, in einem Sinne und in einer Absicht, die weit über aller Juden Verständnis lag. Das ist ein Abba, das Ihm niemand nachsagen kann, o! ein Anfang, der lauschen macht auf das, was diese Lippen