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1.

 Nach dem Berichte der Evangelisten Matthäus und Marcus wurde unser HErr am Kreuze nicht bloß von denen verspottet und verlästert, die am Kreuze vorübergiengen, sondern auch die mit Ihm gekreuzigten Verbrecher schmähten Ihn und stimmten in die Reden der boshaften Feinde unter dem Kreuze ein. Es heißt ausdrücklich in der Mehrzahl, so Matth. 27, 44, wie Marc. 15, 8: „die mit Ihm gekreuzigten Räuber schmähten oder lästerten Ihn.“ Vergleicht man nun dies mit der Erzählung des heiligen Lukas in unserm Texte, welcher die Geschichte am eingehendsten vorträgt, so zeigt sich ein Unterschied: Lukas spricht nämlich von der Lästerung des einen von beiden, während der andere als ein großartiges, wenn auch in der ganzen Schrift einzig dastehendes Beispiel von Buße, Glaube und Heiligung aufgestellt wird. Entweder muß man nun annehmen, daß Matthäus und Markus in der Mehrzahl reden, während nur einer von den beiden Schächern gemeint ist, – und auch diese Auffaßung würde dem allgemeinen Sprachgebrauch gewis nicht widersprechen; oder man müßte die doppelte Erzählung dadurch zu vereinigen suchen, daß man sagte: anfangs haben beide Schächer gelästert, dann aber hat es sich mit dem einen gewendet und er wurde aus einem Lästerer ein Anbeter. Man hat also da zweierlei Erklärungen, zwischen denen ihr, lieben Brüder, wählen könnet, da sie beide wahrscheinlich genannt werden dürfen, und eine jede von ihnen beweist, daß kein Widerspruch zwischen der doppelten Erzählung ist. Denn was sich auf eine zweifache Weise zur Genüge erklären läßt, das kann man nicht widersprechend