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daß alle Glieder des priesterlichen Volkes Recht, ja Pflicht zum Zeugnis haben. Sagt er doch selbst im Zusammenhang der oben angeführten, von den Sachsen für mangelhaft erkannten Stelle, daß das Recht, Prediger zu erwählen und zu ordiniren, welches in der That Recht und Pflicht, Lehre und Leben der Candidaten zu beurtheilen, in sich schließt, aus dem geistlichen Priesterthum stamme, daß beide Handlungen geistlich opfernder Natur seien, indem sie Gott eine Person darstellen, durch welche er seines heiligen Amtes Werke und Geschäfte wirken wolle. (p. 38. §. 5.) Ich kann deshalb beide Theile im Grunde nicht im Widerspruch erkennen. Sie ergänzen einander. So wie sie nur wollen, können sie, einer vom andern, Vortheil ziehen, und zwar gewis die sächsischen Brüder nicht weniger von Herrn P. Grabau, als er von ihnen. Denn die Weihe des Lebens liegt doch im geistlichen Opfer, wie es P. Grabau betont und hervorhebt.

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 Es handelt sich hiebei insonderheit um die aus dem geistlichen Priesterthum abgeleitete Berechtigung der Gemeinden, die Lehre und den Wandel ihrer Prediger zu beurtheilen. p. 33. schreiben die sächsischen Brüder an Herrn P. Grabau: „Sie scheinen, lieber Herr Amtsbruder, das Achthaben auf Lehrer und Lehre, so wie das Urtheilen der Lehre den Gemeinden fast gänzlich abzusprechen und allein denen, die im Lehramte stehen, zuzuweisen.“ Das schloßen die Brüder aus Grabau’s Hirtenbrief. Darauf antwortet Grabau p. 49. §. 3.: „Jeder wahre Christ hat und erkennt seinen allgemeinen Christenberuf, falsche und rechte Lehre zu unterscheiden; denn er soll sich um seiner Seligkeit willen vor falscher Lehre hüten; dies sollen auch unsre Prediger um ihrer eigenen Seligkeit willen. Das stellt der Hirtenbrief durchaus nicht in Abrede. Außer diesem allgemeinen Christenberufe, den wir alle in der heiligen Taufe empfangen haben, gibt es aber nach Gottes Ordnung noch einen amtlichen Beruf, welchen die Kirchendiener von Gott haben, daß sie als berufene und verordnete Hirten und Lehrer innerhalb der Kirche sollen Acht haben auf die Lehre, daß sich nicht falsche Lehre eindränge.“ Ganz ähnlich, ja in gewisser Hinsicht noch zufriedenstellender äußert sich Grabau p. 54. §. 9. Da nun ihrerseits die sächsischen Freunde an der Befugnis der Lehrer, über die Lehre zu urtheilen, nicht zweifeln (vgl. die angeführte Stelle p. 33. im Zusammenhang); so ist auch hier kein Widerstreit. Der ganze Unterschied besteht darin, daß jede Partei von einem zweitheiligen Satze einen Theil mehr hervorhebt, die eine den ersten, die andere den zweiten. Der Satz ist dieser: „Alle Christen haben Recht und Pflicht, die Lehre zu urtheilen, insonderheit die Lehrer.“ Während nun die sächsischen Brüder allen das allgemeine Recht wahren wollen, will P. Grabau das besondere Recht der Lehrer in Obhut nehmen. So wenig nun hiebei die sächsischen Brüder im Sinne haben, „den rechten Gehorsam gegen treue und rechtmäßig berufene Diener Christi“ (S. p. 9.) aufzuheben und den Gemeinden ein ungebundenes Wesen zu gestatten; so möchte es doch auch keinem Zweifel unterliegen, daß der Grabauische Accent und Redeton unter nordamericanischen Verhältnissen seine Berechtigung habe. – Ist deshalb noch gegenwärtig im Punkte des Lehrurtheils zwischen P. Grabau und den sächsischen Brüdern eine Verschiedenheit, so kann sie sich kaum mehr auf die gegenseitig

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Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/103&oldid=- (Version vom 1.8.2018)