Skizzen aus dem Land- und Jägerleben/Das Deputatstück

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Autor: Ludwig Beckmann
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Titel: Das Deputatstück
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 52–55
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Skizzen aus dem Land- und Jägerleben.

Wort und Bild von Ludwig Beckmann.
2.0 Das Deputatstück.

Vor längeren Jahren erhielt ich einst ganz unerwartet von einem befreundeten Forstbeamten eine Einladung zum Pürschen seines „diesjährigen Deputatstückes“. Unter dieser etwas zopfigen Bezeichnung verstand man in dortiger Gegend ein Stück Wild, dessen Abschuß für eigene Verwerthung den Grünröcken vom Oberjagdamte alljährlich ein oder mehrere Male gestattet wurde, je nachdem der Bestand der Wildbahn dies erlaubte[WS 1]. Selbstverständlich wurden für diesen Zweck eben keine Capitalhirsche angewiesen und es ging selten über einen Spießer oder ein Geltthier, beim Schwarzwilde über einen Ueberläufer hinaus. Da aber der Abschuß dieser Deputatstücke in der Regel mit irgend einem kleinen Familienfeste in Verbindung gebracht wurde, so amüsirte man sich in befreundeten Kreisen bei solchen Gelegenheiten weit besser, als auf den großen Hofjagden, welche nach der Ansicht mancher Jäger doch immer „Krähenbeine“ haben. Und wie freute ich mich darauf, die altbekannten Reviere mit ihren ernsten, prächtigen Hochwäldern und den lustig grünen Tannendickungen, das stille Försterhaus am Eichenkamp mit seinen lieben Bewohnern nach jahrelanger Abwesenheit einmal wieder zu sehen!

Am festgesetzten Tage schritt ich daher wohlgemuth – mit der Pürschbüchse im Lederfutteral über der Schulter – dem Posthause zu und rumpelte bald als einziger Insasse einer gelblackirten sogenannten „Beichaise“ Thurn und Taxis’schen Angedenkens, zum Städtchen hinaus. Nachmittags zwei Uhr war ich am Ziele, d. h. am Ziele meiner Postfahrt. Hier erwartete mich mein alter Freund, der Revierförster, mit seinem flotten, offenen Jagdwägelchen, und nach einer dreistündigen lustigen Fahrt, zum Theil durch herrlichen Buchenhochwald, erblickten wir am Ausgange einer Schonung junger Edeltannen die Baumkronen des Eichenkampes, unter denen das Forsthaus mit seinen Nebengebäuden und Stallungen, rings von einer kolossalen Bruchsteinmauer umschlossen, lag.

In dem kleinen, von einer niedrigen Taxushecke eingerahmten Blumengärtchen vor dem Wohnhause blühten noch Georginen und Astern in voller Pracht, und die Damen des Hauses, Mutter und zwei Töchter, waren emsig beschäftigt, die letzten Kinder der Flora in mächtige Sträuße zu binden, um sie nicht dem tückischen Nachtfrost zur Beute werden zu lassen, als sie uns bemerkten und uns freudig entgegenkamen, die jungen Mädchen, zwei reizende Erscheinungen.

Gemüthlich saßen wir nach dem Abendessen noch ein paar Stunden beisammen und plauderten bei einem Glase Punsch von vergangenen Zeiten, so daß ich erst spät mein Bett aufsuchte. Mitten in der Nacht aber ward ich durch ein eigenthümlich hohles Sausen erweckt. Es war der Nordwestwind, welcher hoch oben durch die Wipfel der alten Eichen brauste, unter denen das Forsthaus lag. Gegen Morgen legte sich der Sturm, dafür klatschten einzelne schwere Tropfen an die Fensterscheiben und bald brach ein wahrer Landregen herein, der allem Anschein nach ein paar Tage anhalten konnte. An Jagd war also vorläufig nicht zu denken. Nach dem Frühstück bewaffnete ich mich zunächst mit einem rothen Familienregenschirm und ein paar riesigen Holzschuhen, welche ich auf der Hausflur vorfand, und schritt über den in einen See verwandelten Hofplatz, um die verschiedenen Stallungen zu besichtigen und dann meine alten Bekannten aufzusuchen, den Hundezwinger mit seinen fürstlichen Schweißhunden; auch dem Pferdestalle hatte ich bereits meinen Besuch abgestattet und wollte mich eben auch zu den Kuh- und Schweineställen begeben, als Max, der jüngste Sohn des Försters, gelaufen kam und mich fragte, ob ich vielleicht Herrn Müller’s Schuhe und Regenschirm von der Hausflur genommen, Herr Müller wolle seinen Morgenspaziergang machen und Herr Müller suche seine Sachen vergebens im ganzen Hause.

Ich erfuhr alsdann beiläufig, daß besagter Herr Müller als Hauslehrer im Forsthause fungire, und beeilte mich ihm sein Eigenthum wieder einzuhändigen. Leider hatte Herr Müller inzwischen seine Morgenpromenade bereits angetreten. Der Förster zeigte mir ihn vom Fenster aus, wie er, in einen Mackintosh

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Herr Müller und das Deputatstück.

[54] gehüllt, in dem strömenden Regen auf der Chaussee rüstig bergan schritt. Aus einigen hastigen Gesticulationen des Herrn Müller schloß ich, daß derselbe vielleicht ungehalten auf mich sei, allein der Förster meinte lachend, dies Händefechten habe weiter nichts zu bedeuten; er habe das schon oft an Herrn Müller beobachtet.

Der Rest des Vormittags verging uns rasch in Betrachtung der stattlichen Geweihsammlung. Viel Neues war seit meinem letzten Hiersein hinzugekommen und höchst wundersame Geschichten knüpften sich namentlich an die Erwerbung der „monströsen Rehbocksgehörne“.

Beim Mittagstisch hatte ich denn auch das Vergnügen, Herrn Müller vorgestellt zu werden. Es war ein schmächtiger junger Mann, mit blassem Gesicht und glatt am großen Kopf herabgekämmtem flachsgelben Haar. Um Kinn und Oberlippe wucherte ein Wald weißlicher Stoppeln, welche noch unentschieden zu sein schienen, ob sie sich zu Haar oder Federn ausbilden sollten. Dazu trug er eine große, blaue Brille und einen deutschen Rock wie Vater Arndt’s Statue auf dem alten Zoll in Bonn. Uebrigens war Herr Müller sehr schweigsamer Natur und nahm an der ziemlich lebhaften Conversation während der Tafel nur geringen Antheil. Als ich ihn bei einer geeigneten Gelegenheit wegen der heute Morgen verursachten Störung um Entschuldigung bat, lächelte er sehr zerstreut, murmelte einige unverständliche Worte und fuhr mit den gespreizten fünf Fingern der rechten Hand langsam von den Augen herauf über die Stirn und durch das Haar, wobei sein Blick dieser Bewegung folgte und an der Zimmerdecke träumerisch haften blieb.

Sobald das Dessert aufgetragen wurde, erhob sich Herr Müller und verließ mit einer höchst ceremoniellen Verbeugung das Zimmer. Sein ganzes Wesen stand in so auffälligem Contrast mit dem offnen herzlichen Tone, der in diesem Hause herrschte, daß ich nicht unterlassen konnte zu fragen, ob Herr Müller immer so schweigsam und zurückhaltend sei.

„Leider ja,“ versetzte mit einem tiefen Seufzer die gutmüthige Hausfrau, „und wir bieten doch gewiß Alles auf, um ihm den Aufenthalt bei uns so angenehm zu machen, wie das eben in der Waldeinsamkeit möglich ist.“

„Das einzige Wesen, dem er sich angeschlossen hat,“ setzte der Förster hinzu, „ist der Hund, den Sie eben draußen auf der Hausflur bellen hörten. Das Thier ist uns kürzlich zugelaufen, und unser Herr Müller will sich nicht wieder von ihm trennen. Nun, ich hätte ja nichts dagegen, er soll mir nur seinen Fixköter aus der Wildbahn lassen, oder wenigstens mit ihm auf den Wegen bleiben und ihn hübsch an der Leine führen, wie sich’s gehört, sonst muß ich ihn doch nächstens auf’n Kopf schießen.“

„Ach, Papa, thu’ das doch nicht!“ baten die Mädchen, „dann wird der arme Mensch ja ganz melancholisch; er geht so schon immer so trübsinnig umher.“

„Wenn man nur wüßte, was ihm eigentlich fehlt,“ sagte die Mama, „oder was ihm nicht recht ist; aber das ist ja eben das Unglück, daß er sich gegen Niemand ausspricht.“

„Er hat ganz gewiß eine unglückliche Liebe gehabt!“ flüsterten die beiden Mädchen fast einstimmig.

„Mit Euren Sentimentalitäten!“ brummte der Papa; „die Sache liegt ganz anders. Vor vierzehn Tagen war ich ’mal Morgens mit dem alten Kiekebusch oben auf der Platte bei den Hünengräbern wegen der Holzdiebe. Gegen acht Uhr kommt unser Herr Müller die Chaussee herauf und geht an den Tannen vorbei, zwischen die großen Granitblocke, wo wir versteckt lagen. Hier klettert er auf den dicksten Hünenstein, zieht ein langes, blaues Buch aus der Rocktasche und declamirt und gesticulirt in einer Weise, daß ich wirklich besorgt um den jungen Mann ward. Na, stören wollt’ ich ihn damals nicht, habe ihn aber von der Zeit an schärfer beobachtet und weiß, daß er diese Komödie jeden Morgen da oben bei den Steinen aufführt. Am vorigen Sonntag traf ich nun zufällig seinen Bruder, den Apotheker in Ringsdorf, und hielt es für meine Pflicht, ihm darüber Mittheilung zu machen. Der war aber ganz indignirt über meine Auffassung der Sache und fragte mich, ob ich denn noch gar nicht wisse oder bemerkt habe, daß sein Bruder ein ganz ungewöhnlich begabter Mensch sei und gewiß eine ,innere Berechtigung’ zum Dichter habe. Er arbeite seit zwei Jahren an einem antiken Trauerspiel in fünf Acten, es fehle ihm nur noch ein recht packender, tragischer Schluß, dann solle es sofort in Druck erscheinen und werde gewiß ,durchschlagen’.“

„Ein Trauerspiel also?“ seufzte die Mama und fügte scherzend hinzu: „dann haben die Mädchen am Ende doch Recht!“

„Aber er wird doch nicht sein eigenes Herzleiden drucken lassen?!“ meinte Maria, die älteste Tochter.

„Na, ich bitte Euch, Kinder,“ versetzte der Förster, „das Stück spielt vor zweitausend Jahren und ist betitelt: ,Cambyses’. Es kann also von einem Herzleiden nicht die Rede sein.“

In diesem Augenblick hüpfte Max in’s Zimmer und meldete, der Waldschütz Kiekebusch sei vom Reviergange zurückgekehrt und wünsche Rapport abzustatten.

„Soll herein kommen!“

Kiekebusch trat ein und meldete, daß er am Salzberge drei Stück Wild gesehen und gespürt, nämlich ein altes Thier mit seinem Schmalthier, welches wohl dieselben wären, die immer dort ständen; das dritte aber sei jedenfalls das alte Geltthier, das sonst immer oben auf der Platte in den Tannen, dem Steinbruche gegenüber, gestanden habe und welches der Herr Förster in diesen Tagen als Deputatstück abschießen wollte. Wahrscheinlich, setzte er leise flüsternd hinzu, habe es das viele „Predigen“ nicht vertragen können!

Der Förster war bei dieser Mittheilung vor Aerger aufgestanden und ging verdrießlich im Zimmer auf und ab. Kiekebusch ward mit der Weisung entlassen, morgen früh wieder im Försterhause zu erscheinen, das Wetter möge sein, wie es wolle.

Nach einer Pause hub die Mama an: „Na, um wieder auf das Trauerspiel zu kommen, Papa, Du willst uns aber doch nicht aufbinden, daß das ganze Stück von fünf Acten sich blos um den König Cambyses dreht?“

„Ich weiß es wahrhaftig nicht, Kind, ich weiß es nicht,“ versetzte der Förster ungeduldig, „ich weiß nur, daß es Thatsache, constatirtes Factum ist, daß Euer Herr Müller mit seinem Cambyses uns das Stück Wild von der Platte herunterdeclamirt hat! Da oben hatten wir es, so zu sagen, im Sacke – jetzt steht es unten im Salzberge und der Salzberg ist groß, da mag es der Kuckuck suchen bei dem Regen! Wenn Ihr nun zum Sonntag keinen Wildpretsziemer habt, so ist das nicht meine Schuld, dann könnt Ihr ein Paar von Euren magern Gänsen schlachten.“

Am Sonntag war nun aber Anna’s neunzehnter Geburtstag und man erwartete zu diesem Familienfeste eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft. Die Damen erschraken daher nicht wenig ob der Mittheilung des Herrn Papa, sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen und hielten einen Rath, dessen Endresultat war: ein Wildpretziemer müsse bis morgen Abend beschafft werden auf gutem oder bösem Wege!

Der Revierförster hatte inzwischen seinen Humor wiedergewonnen und wandte sich lachend zu mir: „Nun, sehen Sie ’mal, Herr B., ein vollständiges Weibercomplot! Da werden wir uns morgen früh doch wohl ’n Bischen zusammennehmen müssen, sonst sind unsere Damen capable, sich wegen der Wildpretlieferung direct an Herrn Müller zu wenden.“

Als wir am nächsten Morgen ausrückten, erwartete uns Kiekebusch schon vor der Hausthür mit dem Schweißhund am Riemen. Das Wetter war hell, aber kalt und stürmisch; wir schritten rüstig mitten auf der Chaussee bergan, während links und rechts kleine Bächlein gelben Lehmwassers in Folge des anhaltenden Regens herabrieselten.

Bei der Tannendickung oben auf der Platte angelangt, spähten wir vergebens am Boden nach einer frischen Fährte, dafür drang der laute Schall einer menschlichen Stimme von den Granitblöcken hinter den Tannen her an unser erstauntes Ohr.

„O du blutiger Heiland,“ sprach der Förster, „da ist der unglückliche Müller schon wieder im Gange! Nun, kommt nur hinunter nach dem Salzberge, hier oben suchen wir doch vergebens!“

Wir gingen nun seitwärts hinter den Tannen vorbei, um Herrn Müller nicht zu stören. Als wir eine Schneiße passirten, erblickte ich ihn von der Hinterseite; er stand auf dem höchsten Steinblocke des Hünengrabes, trug den aufgespannten Schirm zum Schutz gegen den Wind im Nacken, fuchtelte mit einer langen Papierrolle in den Lüften umher und rief eben ein dreifaches Wehe! über „Pelusium und Memphis“ in den Sturmwind hinaus.

Der Alte schüttelte den Kopf und meinte im Hinabsteigen, er könne es dem alten Geltthier gar nicht verdenken, daß es dort [55] ausgewandert sei; jeden Morgen so’n Schauerspiel, das könnte ihn auch aus dem Bette treiben.

In einem alten Wasserlaufe dicht vor dem Schlagholze am Salzberge fanden wir zuerst die frischen Fährten unsers Wildes. Kiekebusch sollte nun hier mit dem Schweißhunde halten, bis wir den jenseitigen Rückwechsel besetzt haben würden, worauf er mit dem Hunde, langsam der Fährte folgend, das Wild aus der Deckung lanciren sollte. Dieses war aber schon rege; wir waren etwa noch sechszig Schritt von unsern Ständen entfernt, als das Wild schon aus dem Schlagholz trat und, mitten auf der breiten Schneiße stehend, rückwärts sicherte nach der Gegend zu, wo Kiekebusch sich postirt hatte. Das Geltthier zeichnete sich durch seinen feisten, glatten Körper und seine helle, fast isabellgelbe Färbung auffällig und vortheilhaft vor seinen beiden Gefährten aus. Indeß schien es fast zu wissen, um was es sich handle, denn es hielt sich fortwährend im Hintergrunde, bald durch das Altthier, bald durch das Schmalthier gedeckt, so daß es trotz der kurzen Distanz höchst schwierig war, einen Schuß anzubringen. Endlich trat es einen Schritt vor, und ich zog vorsichtig das Gewehr an.

„Noch nicht!“ flüsterte mein Freund, „lassen Sie sich nur Zeit; jetzt könnte es bald gehen, schießen Sie mir um Gotteswillen das Schmalthier nicht todt – Pang! – bravo, der sitzt gut!“

Auf den Schuß war die ganze Wildgruppe wie durch einen Zauberschlag verschwunden. Während der Anschuß verbrochen und die Büchse geladen wurde, kam Kiekebusch heran und meldete, das alte Geltthier sei langsam und augenscheinlich schwer krank den Berg hinaus gezogen nach seinem alten Stande in den Tannen. Er war darüber sehr erfreut, denn wenn das Wild im Feuer gestürzt wäre, meinte er, so hätten wir saure Arbeit gehabt, es den schiefen Berg hinauf zu schleppen. Jetzt wäre es aber dicht an der Chaussee und könnte direct auf den Schiebkarren geladen werden, denn er sei überzeugt, daß es binnen zehn Minuten verendet sei. Wir beschlossen, eine halbe Stunde zu warten, ehe wir den Hund zur Fährte legten.

Gleich darauf erscholl aber von der Platte her das heftige Gebell eines kleinen Köters, dann hörten wir, wie er an dem Wilde in den Tannen hin und her und zuletzt in’s Freie hinaus jagte. Wir eilten den Berg hinan und hatten oben einen höchst überraschenden Anblick. Das Wild ging ziemlich flüchtig über die offene Haide, stellte sich aber alle Augenblicke vor dem Hunde und schlug nach diesem mit den Vorderläufen. Hinter dem Hunde drein lief Herr Müller in riesenhaften Sätzen, wahrscheinlich bemühte er sich, auf die nachschleifende Leine des Hundes zu springen, dann wieder schlug er mit seinem rothen Regenschirm nach dem Köter. Unser lautes Rufen verhallte in dem uns entgegenstehenden Winde, die tolle Hetze ging weiter und weiter und zuletzt verschwanden alle Drei in dem jungen Buchenaufschlag, welcher den Rand des Steinbruches umsäumte. In diesem Augenblick hörten wir das helle Knacken und Krachen eines niederbrechenden Stangenzaunes, dann war Alles still.

„Das giebt ’n Unglück,“ meinte Kiekebusch; „geben Se mal Acht, wenn wir ankommen, liegt die ganze Sippschaft unten im Steinbruch!“

Als wir in die Buchenschonung eindrangen, stießen wir zunächst auf das bereits verendete Wild, an welchem der Hund noch herumzausete. – Kiekebusch schoß ihm im Vorbeigehen in den Nacken, daß er kopfüber schlug. Einige Schritte weiter stießen wir auf einen eingetriebenen Filzhut, desgleichen auf einen Holzschuh. Beide Gegenstände wurden als Herrn Müller zugehörig erkannt, ebenso der rothe Familienschirm, welcher in höchst melancholischer Stellung in einem Buchenbusche schwebend angetroffen wurde. – Es handelte sich nun darum, den Eigenthümer ausfindig zu machen. Auf mehrfaches Rufen erfolgte endlich ein schwaches: „Hier!“ und wir athmeten wieder freier.

Dicht vor dem niedergebrochenen Geländer kniete der Gesuchte auf allen Vieren am Boden und tastete suchend mit den Händen unter dem hohen, nassen Haidekraut umher.

Sobald wir ihn erblickten, schrieen wir ihn einstimmig an, ob er Schaden genommen?

„Nein – nur etwas versimpelt – ich suche meine Brille“ – antwortete er trocken, indem er, ohne aufzusehen, noch immer links und rechts am Boden umhertastete.

Ueber das, was mit ihm vorgegangen, wußte Herr Müller nur wenig Auskunft zu geben. Unvorsichtigerweise war er in seinem Bestreben, den widerspenstigen Hund einzufangen, dem bedrängten Wild zu nahe gekommen, so daß diesem kein anderer Ausweg übrig blieb, als in den Steinbruch zu stürzen oder Herrn Müller über den Haufen zu rennen. Es wählte das Letztere, brach aber in Folge dieser letzten Anstrengung zusammen und verendete. Herr Müller war mit dem bloßen Schrecken und einer leichten Schramme über den Rücken davon gekommen.

Trotzdem hätte die Sache um ein Haar noch einen kläglichen Ausgang genommen. Kaum hatte sich Herr Müller nämlich wieder aufgerichtet und den verlorenen Holzschuh wieder angelegt, als er plötzlich kurz Kehrt machte und eiligst über den niedergetretenen Stangenzaun hinaus wollte. Kiekebusch erwischte ihn eben noch bei den Rockschößen und der Förster schrie ihm zu, wo er denn da eigentlich hinaus wolle?

„Wo hinaus?“ fragte Herr Müller verwundert; „ich wollte mein Manuscript holen – es muß bei dem Hünenstein liegen –“

„Da hinaus geht’s aber nicht nach dem Hünenstein,“ war die Antwort, „da geht’s in den Steinbruch hinunter! Verehrtester, kommen Sie mal eben hier durch den Busch – nanu?“ –

Herrn Müller’s Kniee begannen zu schlottern, als er in den Abgrund vor seinen Füßen hinabschaute. Es war todtenstill in dem weiten Raume da unten, nur ein heller, pickender Ton scholl aus der Tiefe leise, leise zu uns heraus, es war das Hämmern eines Arbeiters, welcher an der riesigen, hellen Sandsteinwand wie ein winzig kleines dunkles Pünktchen erschien.

„Nun, sehen Sie mal, Herr Müller,“ fuhr der Förster fort, „Ihr Herr Bruder sagte mir kürzlich, daß Ihnen blos noch ’n recht tragischer Schluß zu Ihrem Schauerspiel fehlte. Diesen Schluß hätten Sie hier sicher gefunden, wenn Kiekebusch Sie nicht noch erwischt hätte.“

„Jawohl, jawohl, Herr Müller,“ bekräftigte Kiekebusch, der diesen noch immer zur Sicherheit beim Rockschoße festhielt, „wenn Sie dahinunter gesegelt wären, dann könnten Sie jetzt Ihre sämmtlichen Knochen in ’n Schnupptuch nach Hause tragen.“

Herr Müller trat jetzt schaudernd zurück und meinte, auf seine Uhr sehend, es sei die höchste Zeit, daß er nach Hause gehe, um den Unterricht zu beginnen. Der Förster aber rieth ihm, sich direct in’s Bett zu begeben und Thee zu trinken, denn er schüttelte sich wie im Fieberfrost. Kiekebusch ward beordert, ihn zu begleiten und dann mir einem Tagelöhner und Schubkarren zurückzukommen, um das Wild heimzuführen.

Wir selbst blieben oben bei diesem zurück, da es aber anhub zu regnen, suchten wir Schutz unter den Hünensteinen und suchten zu gleicher Zeit versprochenermaßen nach dem Manuscript. Es war jedoch nirgends zu entdecken; wenn es wirklich von Herrn Müller auf dem Steine zurückgelassen war, mußte ein Vorübergehender es gefunden und mitgenommen haben.

Nach einer Weile erschienen die Leute und führten das Wild heim. Ich begleitete meinen Freund noch zu einem andern District, wo er den Fortgang verschiedener Waldarbeiten inspiciren wollte. Als wir heimkehrten, baumelte das „Deputatstück“, sauber aufgebrochen, bereits hoch am Haken unter der Rollwinde. Kiekebusch stand daneben und schaute, sein Pfeifchen schmauchend, den Hunden zu, welche gierig das auf dem Hofe liegende Gescheide verzehrten. – Herr Müller lag im Bette und schwitzte Trübsal.

Das Manuscript ward im folgenden Frühjahr völlig verwittert und verwaschen in den Buchen am Steinbruche durch Kiekebusch aufgefunden. Herr Müller hatte den Verlust inzwischen bereits verschmerzt, soll auch gar keine Versuche zur Fortsetzung des „Cambyses“ gemacht haben, überhaupt nach jener Katastrophe ganz vernünftig geworden sein.

Wie ich höre, ist er später nach Amerika gegangen, hat in New-York in Verbindung mit einem Landsmanne eine Guttaperchafabrik angelegt und später in Petroleumspeculationen in kurzer Zeit bedeutendes Vermögen erworben. Im vorigen Jahre kam er zurück, um die immer noch reizende Anna als seine Gattin in die neue Heimath jenseits des Oceans zu führen.

Der große Hünenstein auf der Platte aber heißt bis auf den heutigen Tag in der ganzen Umgegend: Müller-Kanzel.



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