Soldatenrecht im Frieden
Soldatenrecht im Frieden.
Während wir die nachfolgenden Zeilen niederschreiben, tagt in Berlin eine kaiserliche Immediatcommission, welche sich die Aufgabe gestellt hat, den Entwurf einer neuen Militärstrafproceßordnung für das ganze deutsche Reich zu schaffen. Voraussichtlich wird, nachdem der Entwurf dem Bundesrathe vorgelegen hat, der Reichstag sich schon in nächster Session mit der entsprechenden Gesetzesvorlage zu beschäftigen haben. Dadurch gewinnt die Sache ein hohes Zeitinteresse, und es erscheint angezeigt, derselben auch an dieser Stelle einige Aufmerksamkeit zu schenken.
Der deutsche Militärstrafproceß bewegte sich – Baiern ausgenommen – bisher noch in mittelalterlichen, überlebten Formen; er hat sich bis zur Stunde noch keines der leitenden Grundprincipien [359] angeeignet, auf welchen die ganze neuere Strafrechtspflege beruht.
Bei der Gründung des norddeutschen Bundes, in einer Zeit, wo Alles in eine vorwärtsstrebende Bewegung kam, wurde mit der Uebertragung des preußischen Verfahrens auf das ganze Staatengebiet des norddeutschen Bundes sogar ein starker Schritt nach rückwärts gethan, als das auf freisinnigerer Unterlage sich bewegende Militärstrafverfahren anderer Staaten, wie Hannovers und in gewissem Sinne auch Sachsens, beseitigt wurde. Und dann geschah das weitere Seltsame, daß Preußen, der militärische Musterstaat, der gerade in militärischen Dingen, wo es galt, Neues und Besseres zu schaffen, immer mit kühner Initiative voranging, in diesem Falle sich von Baiern überholen ließ, von Baiern, das seine mit dem Jahre 1870 eingeführte Militärstrafproceßordnung den Anforderungen der Neuzeit anpaßte.
Gegenüber dem Grundsätze unseres Gerichtsverfassungsgesetzes, alle Ausnahmegerichte für unstatthaft zu halten, könnte zunächst die Frage angezeigt erscheinen, ob nicht überhaupt die Militärgerichte aufzuheben und die Strafgerichtsbarkeit über Militärpersonen den gewöhnlichen bürgerlichen Gerichten zu übertragen sei. Damit würde sich allerdings die Reformfrage auf’s einfachste lösen. Obwohl nun unsere Militärverfassung selbst von einem gewissen demokratischen Zuge beherrscht wird, insofern Alles ohne Ausnahme, ohne Rücksicht auf Stand, Beruf oder Vermögen die Heeresfolge leisten muß, so sind für diese Lösung doch immer nur sehr wenige Stimmen eingetreten. Die wenigsten Anhänger hatte der Reformvorschlag gefunden, nach welchem die Uebertragung aller Vergehen auf die bürgerlichen Gerichte erfolgen sollte, wogegen diejenige Ansicht vielfach Raum gewonnen hat, welche zwischen den eigentlichen Militärvergehen, die auf dem militärischen Dienste und Organismus beruhen, und den von Militärpersonen begangenen gemeinen Vergehen gegen das bürgerliche Strafgesetzbuch unterscheidet und diese letzteren den bürgerlichen Strafgerichten zuweist. In England und Frankreich ist diese Unterscheidung bereits praktisch durchgeführt worden. Auch in Preußen ist man einer Lösung der Reformfrage in diesem Sinne bereits in früheren Zeiten nahe getreten, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Es ist auch nicht zu verkennen, daß sich einer Aufhebung dieses Ausnahmezustandes, wenigstens zur Zeit, vielfache Bedenken entgegenstellen. Namentlich gehört zur Beurtheilung reiner Militärvergehen eine genaue Kenntniß des militärischen Organismus, die auf theoretischem Wege nur schwer zu erlangen ist.
Dem Civilrichter als militärischem Laien würden sich hier leicht besondere Schwierigkeiten in den Weg stellen und er aus Unkenntniß der Verhältnisse zu Entscheidungen kommen, welche eine Lockerung der militärischen Disciplin im Gefolge haben könnten, deren straffe Handhabung ein militärisches Grundgesetz bildet. Es käme also hier ein sachliches, nicht ein bloßes Standesinteresse in Frage. Aber auch bei den gemeinen Vergehen bleibt das militärische Interesse nicht ohne Berührung. So lange wir demnach kein eigentliches Volksheer haben – und bei der politischen Stellung der Staaten zu einander wird ein solches wohl noch eine geraume Zeit ein frommer Wunsch bleiben – so lange wird auch dem Soldatenstande in seinen verschiedenen Beziehungen eine gewisse Ausnahmestellung gewahrt bleiben müssen.
Es wird daher nur darauf ankommen, das Militärstrafverfahren mit denjenigen Anforderungen mehr in Einklang zu bringen, welche die veränderten Anschauungen der Zeit überhaupt an die Strafrechtspflege stellen, welche ferner geeignet sind, eine objektivere und unbefangenere Rechtsprechung zu verbürgen, und schließlich eine größere Einheitlichkeit auf dem fraglichen Gebiete in Aussicht stellen.
Wenden wir uns nunmehr einer flüchtigen Betrachtung der gegenwärtigen militärgerichtlichen Verhältnisse in Preußen zu! Im Militärstrafprocesse herrscht hier noch das sonst längst abgethane inquisitorische Untersuchungsverfahren. Ein von dem Gerichtsherrn bestelltes Untersuchungsgericht, bestehend aus einem Auditeur und einem oder zwei untersuchungführenden Officieren, im Fällen der niederen Gerichtsbarkeit dem Auditeur oder den Letzteren allein, führt die Voruntersuchung. An diese reiht sich bei Sachen, die vor die höhere Gerichtsbarkeit gehören, ein Schlußverhör, in welchem dem Angeschuldigten die Ergebnisse der actenmäßigen Verhandlungen vorgetragen werden, und dabei ist dem Letzteren erlaubt, seine Vertheidigung, aber nur schriftlich oder zu Protokoll, zu erklären. Die Zuziehung eines rechtskundigen Vertheidigers zu diesem Zwecke ist nur bei gemeinen Vergehen, welche eine längere als dreijährige Freiheitsstrafe nach sich ziehen, gestattet. Hält der Auditeur die Sache für geschlossen und spruchreif, so erstattet er darüber dem Gerichtsherrn Vortrag, und dieser beruft nunmehr das Spruchgericht, das je nach dem Range des Angeschuldigten sich verschiedenartig zusammensetzt.
In geheimer Sitzung trägt der Auditeur den Inhalt der Acten vor und befragt den Angeschuldigten, ob er noch etwas zu erklären habe, welche Erklärung dann wieder schriftlich verlautbart wird. Nach Abführung des Angeschuldigten hält wiederum der Auditeur dem versammelten Gerichte Vortrag über die Lage der Sache und das anzuwendende Gesetz und giebt dabei zugleich kund, wie nach seiner Meinung zu erkennen sei. Nunmehr wird, und zwar nicht nach Einzelstimmen, sondern nach den vertretenen Rangclassen, über die Schuldfrage und das Strafmaß abgestimmt. Wiederum ist es dann der Auditeur, welcher auf Grund dieser Abstimmung das Erkenntniß unter Beifügung von Entscheidungsgründen ausfertigt. Damit ist die Sache indeß noch nicht zu Ende, vielmehr bedarf das Erkenntniß, um rechtsgültig zu werden, noch der Bestätigung des zuständigen Befehlshabers, und zwar je nach der Verschiedenheit des Falles der Bestätigung des Kriegsministers, des Truppencommandanten oder auch des obersten Kriegsherrn.
Der bestätigende Befehlshaber kann das Erkenntniß zwar nicht aufheben, aber die erkannte Strafe bis auf das gesetzlich geringste Maß herabsetzen. Nach erfolgter Bestätigung wird das bis dahin noch immer geheim gehaltene Erkenntniß dem Angeschuldigten verkündet, und damit ist es gleichzeitig rechtskräftig, also vollstreckbar; es kann nunmehr durch Berufung an eine höhere Instanz nicht angefochten, wohl aber wegen etwaiger Formfehler bei Besetzung des Gerichts durch Nichtigkeitsbeschwerde vernichtet werden.
Aus diesem gedrängten Abrisse des Verfahrens geht zunächst hervor, wie bei dem ganzen Acte dem Auditeur oder untersuchungführenden Officier die Hauptrolle zufällt, wie sich in seiner Person die Thätigkeiten eines Inquirenten, Referenten, Anklägers und Vertheidigers, ja gewissermaßen bei der Wichtigkeit des von ihm vorher abgegebenen Votums auch des Richters vereinigen. „Ihm gegenüber spielt, “ um die eigenen Worte eines königlich preußischen Auditeurs (Justizrath Bothe in seiner Schrift: „Der preußische Militärstrafproceß und seine Reform“) zu gebrauchen, „der Angeklagte, auf dessen Schuld oder Unschuld es doch ankommt, nur eine traurige Nebenrolle.“
Und wie dürftig ist die demselben zugestandene Vertheidigung! Der überzeugenden Gewalt des mündlichen Vortrags entbehrend, ist sie nichts mehr als eine bedeutungslose Form. Mit dem Beharren bei dem alten Inquisitionsverfahren verbindet sich aber auch das Festhalten an den starren Regeln der alten kriminalistischen Beweistheorie, welche dem Urtheilsvermögen die Freiheit der Entschließung raubt Und in ganz Deutschland im Criminal- und Civilproceß der freien Beweiswürdigung hat Platz machen müssen. Eine nothwendige Voraussetzung für das neue auf die freie, innere Ueberzeugung gegründete Beweisverfahren bildet die Unmittelbarkeit der Beweisführung vor Aug’ und Ohr des Richters an Stelle des bloßen Vortrags des Beweisergebnisses aus den Acten, mit andern Worten die Einführung des Princips der Mündlichkeit.
Dieses kann aber nicht wohl bestehn ohne die Controlle der Oeffentlichkeit, ohne die Verbindung des mit ihm in engem Zusammenhänge stehenden Princips der Oeffentlichkeit. Hat man das letztere doch deshalb auch jetzt auf den Civilproceß, also auf Sachen übertragen, die nur das reine Privatinteresse berühren. Alle geheime Rechtspflege unterfällt heutzutage einem gewissen subjektiven Mißtrauen, mag dasselbe auch objectiv noch so wenig gerechtfertigt erscheinen. Die Rechtspflege bedarf entschieden der Oeffentlichkeit zur Kräftigung ihres Ansehens. Hat sie doch auch schon bei unsern Altvordern nicht hinter verschlossenen Thüren gesessen. Freilich muß dabei der alte Inquisitionsproceß gänzlich bei Seite geworfen werden und an dessen Stelle das Anklageverfahren mit Staatsanwaltschaft und freier Vertheidigung treten.
Die Uebertragung dieser Grundsätze auf das Militärstrafverfahren ist trotz der Sonderstellung desselben zunächst gar nicht einmal so neu und unerhört, wie es Manchem erscheinen mag. Die Geschichte unseres Militärwesens steht diesen Reformen gar nicht fremd gegenüber. So war der Anklageproceß an Stelle des Inquisitionsprocesses schon im schwedischen Heere unter Gustav Adolf eingeführt, [360] und der große Kurfürst wurde dadurch veranlaßt, auch das brandenburgische Verfahren dem entsprechend zu reformiren. Der Generalauditeur Friccius, ein vorher an einem rheinischen Cassationshofe beschäftigt gewesener Jurist, legte dem König Friedrich Wilhelm dem Dritten, schon Anfang der dreißiger Jahre den Entwurf einer neuen Militärgerichtsordnung vor, welche auf allen oben angeführten Grundsätzen ruhte. Die am Staatsruder befindliche feudale Partei widersetzte sich jedoch diesen ihren Anschauungen wenig entsprechenden Neuerungen mit solcher Entschiedenheit, daß der König dem Entwurfe seine Bestätigung versagte. Der spätere Generalauditeur Fleck aber war ein entschiedener Gegner aller Reformen und hielt unverrückt am Bestehenden fest. Er sah in dessen Veränderung eine theilweise Entäußerung der dem obersten Kriegsherrn und den Befehlshabern zugehörigen Strafgewalt und fürchtete davon eine Lockerung der militärischen Disciplin. So blieb es denn beim Alten.
Im Königreich Baiern theilte man indessen diese Befürchtungen nicht; denn dort wurde in der seit dem 1. Januar 1870 eingeführten Militärstrafgerichtsordnung vom 29. April 1869 als oberster Grundsatz aufgestellt, daß sich „das Verfahren nach den für das bürgerliche Strafverfahren geltenden Bestimmungen zu richten habe, insoweit nicht in dem Gesetze eine besondere Ausnahme gemacht würde“. Demnach wird dort zunächst die Voruntersuchung, falls eine solche nöthig ist, durch einen Auditeur geführt; dann gelangt die Sache durch den bei jedem Militärbezirksgerichte angestellten, juristisch gebildeten Staatsanwalt an das Militärbezirksgericht behufs Beschlußfassung über Einstellung oder Fortgang des Verfahrens. Mit dem rechtskräftigen Verweisungsbeschlusse tritt darin schon die Vertheidigung des Angeklagten in Action. Die Bestellung des Vertheidigers geschieht von Amtswegen oder durch freie Wahl des Angeklagten und ist nicht auf Militärpersonen beschränkt. Der Wahrspruch erfolgt durch Geschworene, welche aus den Kreisen militärischer Standesgenossen erwählt werden, und der formelle Verlauf der Hauptverhandlung entspricht ganz dem unserer bürgerlichen Schwurgerichte. Die Verhandlung ist eine mündliche und öffentliche, wenn auch unter Beschränkung der Theilnahme auf erwachsene männliche Personen, Freunde und Angehörige des Angeklagten, und der Gerichtshof besteht aus dem der Zahl der Auditeure entnommenen präsidirenden Gerichtsdirector sowie aus einem Officier und Auditeur als Beisitzer.
Eine zehnjährige Praxis hat diesem Verfahren bereits die Signatur der Lebensfähigkeit verliehen, ein Umstand, durch welchen die geltend gemachten Bedenken am besten widerlegt werden. Wo in einzelnen Fällen der Ausschluß der Oeffentlichkeit geboten erscheint, wie z. B. in solchen, wo Verbreitung technischer Erfindungen oder Bekanntgebung von Schlacht- und Festungsplänen zu befürchten steht, da kann dieselbe, wie in ähnlichen Fällen bei den bürgerlichen Gerichten, erfolgen, ohne daß damit eine Verwerfung des Princips selbst begründet erscheint. Daß schon im Allgemeinen die militärische Subordination darunter leide, ist nicht einzusehen, es müßte denn sein, daß man in dem Bekanntwerden einzelner Ausschreitungen auf diesem Gebiete, wie sie mehrfach, erst jüngst wieder bei einer Militärschwurgerichtssitzung in Würzburg, hervorgetreten sind, eine Schädigung der militärischen Autorität befürchtet. Wir meinen aber, daß gerade in der Veröffentlichung dieser Uebelstände ein sehr wesentliches Correctiv gegen deren weiteres Umsichgreifen gegeben ist. An der Beseitigung solcher Vorkommnisse muß doch aber schließlich allen Theilen gleichmäßig gelegen sein.
Auch die Abhängigmachung der Rechtskraft der richterlichen Urtheile von der Bestätigung des Gerichtsherrn ist in Baiern beseitigt. Sie enthält auch eine unverkennbare Schädigung der richterlichen Selbstständigkeit, wie auch in der Beseitigung der Berufung eine Verletzung des Princips der höheren Gerechtigkeit liegen würde, falls nicht das Verfahren sich nach den neueren Grundsätzen regelte. Die Uebertragung rein juristischer Functionen auf eine blos militärisch vorgebildete Person, wie den untersuchungführenden Officier, ist nicht minder geeignet, das gleiche Princip zu schädigen.
Die totale Verschiedenheit des Verfahrens, welche hervortritt, je nachdem der Verbrecher den Rock des Civilisten oder die Montur des Soldaten trägt, ja, je nachdem dieser einem baierischen oder preußischen Militärcontingente angehört, ist aber auch schon an sich geeignet, eine Verschiedenheit der Rechtsprechung zu begünstigen, gewissermaßen zweierlei Recht zu schaffen. Die Erfahrung ist nicht arm an Beispielen hierfür.
Wir wissen nicht, ob und in wie weit der Entwurf des Generalauditeurs Oelschlägel, der den Verhandlungen der Reformcommission, zu Grunde liegt, den ausgestellten, bereits von Baiern in die Praxis eingeführten Grundsätzen entspricht; daß er sich aber von demselben nicht sehr entfernen darf, erscheint als eine gebieterische Forderung der höherem Gerechtigkeit, der Humanitätsbestrebungen wie überhaupt des ganzen Ideengangs unserer Zeit, und nicht zuletzt auch als ein Gebot der den Einheitsgedanken treu hütenden Liebe zu unserem deutschen Vaterlande.