Stift Neuburg bei Heidelberg
Stift Neuburg bei Heidelberg.
Seit im Jahre 1877 der von Theodor Creizenach herausgegebene und erläuterte „Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer“ volle Klarheit über das wundersame poetische Herzensverhältnis verbreitet hat, welchem die schönsten Gedichte des „West-östlichen Diwan“ entblühten, wird von keinem Goetheverehrer, der die Gedenkstätten in des Dichters Geburtsstadt aufsucht, ein Gang nach der „Gerbermühle“ versäumt, wo jenes Verhältnis sich knüpfte.
Dieses einst vom Geheimrat Johann Jacob v. Willemer als Sommerwohnung benutzte, jetzt leider baufällige Landhaus, das an dem Fußweg zwischen Frankfurt und Offenbach am Mainesufer im Schatten alter Bäume liegt, ist damals schon den Lesern der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1877, Seite 804) in Wort und Bild geschildert worden.
Die Erinnerung an den Verkehr des Dichters mit Willemers jugendlicher Gattin Marianne, der in den Liebesliedern des Buchs „Suleika“ so reizvolle poetische Verklärung gefunden hat, ist aber auch mit jenem stattlicheren, noch heute gar wohnlichen Landsitz am Neckarufer verknüpft, den um 1825 der Frankfurter Oberstudienrat Johann Friedrich Schlosser erwarb, mit Stift Neuburg bei Heidelberg, und eine Schilderung dieser kürzlich von mir besuchten Gedenkstätte wird daher vielen willkommen sein. Weilte doch Marianne von Willemer oft auf Stift Neuburg als Gast in jenen Tagen, da sie an Goethe jene Briefe und Gedichte sandte, die ihm selbst am Ende seines Lebens als „Zeugen allerschönster Zeit“ erschienen.
Goethe hatte Frau von Willemer im September des Jahres 1814 in Frankfurt kennengelernt.
Er hatte vorher am Rhein erfrischende Reisetage verlebt. Während seines diesmaligen Aufenthaltes in der Vaterstadt wohnte er zunächst bei seiner mütterlichen Freundin, der Witwe des Schöffen Hieronymus Schlosser, sprach aber mehrmals bei dem mit ihr befreundeten Willemer vor, mit dem er schon früher in Briefwechsel gestanden und der dem Dichter nach dem Tode seiner Mutter beim Ordnen der Erbschaftsangelegenheiten im Verein mit dem jungen Johann Friedrich Schlosser, dem Sohn des Schöffen, wertvolle Dienste geleistet hatte. Höchst eigenartig waren die Umstände, welche der Verheiratung des schon betagten hochangesehenen und kunstsinnigen Bankiers mit Marianne vorangingen. Marianne Jung hatte kaum das vierzehnte Lebensjahr erreicht, als sie 1798, in Begleitung ihrer Mutter, der Witwe eines Instrumentenmachers aus Linz, mit einer Theatergesellschaft nach Frankfurt kam und die dortige Bühne in Kinderrollen betrat. Willemer, der als Mitglied der Oberdirektion des Theaters die hohe geistige Begabung des heiteren Mädchens kennenlernte, entschloß sich, die fast noch dem Kindesalter angehörige Marianne von der Bühne zu entfernen und für ihre weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Indem er der Mutter an Stelle der Vorteile, welche ihr aus der Bühnenthätigkeit der Tochter werden sollten, eine Entschädigung bot, nahm er die kleine Künstlerin in sein Haus auf. Dort ließ er sie mit seinen zwei noch im Hause lebenden Töchtern aus einer früheren Ehe gemeinsam erziehen, nicht ohne daß er von lieben Landsleuten manchen Spott über seine pädagogische Vorliebe für „schöne Gegenstände“ hören mußte.
Das Mädchen entfaltete indessen überraschende Talente im Zeichnen und Singen, sowie im deklamatorischen Vortrag [626] und verbreitete allenthalben, wo es sich befand, Behagen, Glück und Freude. So entschloß sich der Gründer ihres Glücks, nachdem seine Töchter sich sämtlich verheiratet hatten, ihr die Hand zum dauernden Bunde zu reichen. Als Goethe sie nun traf, war sie nach seinen eigenen Worten „das vollendete Bild weiblicher Anmut, eine tief poetische Seele, die auf den Flügeln der Grazie leicht durchs Leben schwebte.“ Kein Wunder, wenn er sich in inniger Neigung zu Marianne hingezogen fühlte, ein Wunder aber für ihn, daß die bezaubernde Hülle dieses Wesens ein dem seinen fast ebenbürtiges Talent für lyrische Dichtung barg!
Nach einem kurzen Ausflug nach Heidelberg zu Sulpice Boisserée folgte Goethe der Einladung Willemers und verbrachte als dessen Gast mehrere Tage auf der Gerbermühle. Es waren überaus genußreiche Stunden, welche der Dichter damals im Umgange mit seinen Gastfreunden verlebte.
In lauen Nächten hielt man sich auf der Veranda des Hauses auf; bei Vollmondschein bot sich hier ein herrlicher Blick über das weite Thal des Flusses bis hin zum Taunus, an dessen Feldberg einst der Dichter, fern in Italien, sich beim Anblick des Sabinergebirges erinnert fühlte. Goethe las von seinen neuentstandenen Gedichten vor, Marianne sang mit seelenvoller Stimme manches seiner Lieder. In jenem Jahre beschäftigte sich Goethe mit dem Plan, die reizvolle Kunstweise des Persers Hafis, dessen Poesien er kurz vorher kennengelernt, seinem eigenen Talent dienstbar zu machen. Der „West-östliche Diwan“ war im Entstehen und Marianne wurde das Urbild der darin von „Hatem“ besungenen „Suleika“.
Die Mehrzahl dieser Lieder entstand im folgenden Jahre während der herrlichen Herbstwochen, die Goethe wiederum als Gast bei Willemers in der Gerbermühle und in deren Frankfurter Stadtwohnung, dann mit Mariannen und ihrem Gatten in Heidelberg verlebte. Goethes Gefühl für die heitere tiefempfindende Sängerin seiner Lieder, das hafisische Behagen des geselligen Lebens im Willemerschen Hause entsprach ganz der Seelenstimmung seines „Hatem“.
Die Spaziergänge, welche der Dichter mit Marianne zwischen den romantischen Ueberresten des Heidelberger Schlosses und in den daranstoßenden Parkanlagen machte, weckten in ihm die schönsten der Suleikalieder. Auf einem solchen Gange war es, daß Goethe das Blatt eines damals noch ziemlich unbekannten Baumes, der Gingo biloba, pflückte und dasselbe – zwei Hälften und doch ein Ganzes bildend – als symbolisches Unterpfand seiner Gefühle der geliebten Freundin gab. Darauf bezieht sich das Gedicht „Gingo biloba“:
„Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?“
Nicht alle Lieder im Buche „Suleika“ rühren aber von Goethe her; mehrere der schönsten sind von Marianne v. Willemer verfaßt, welche mit frohem Zugehen auf das persische Dichtermärchen ihr eigenes Empfinden in Verse zu kleiden wußte, die völlig eines Goethe würdig waren. Das vielbewunderte zarte Sehnsuchtsgedicht „Ach, um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide“ ist dafür ein Vollbeweis.
Der Wechselgesang solcher Liebeslieder währte noch eine Zeit lang nach den Heidelberger Tagen fort. Hier am Ufer des Neckar sahen sich die beiden zum letztenmal am 26. September 1815. Goethe kam auch nicht wieder dazu, die Vaterstadt zu besuchen. Dafür trat ein brieflicher Verkehr ein, der eifrig gepflogen wurde. Freilich fanden auch in diesem die Töne der Leidenschaft allmählich ihren Ausklang und gingen in die sanfteren Accorde der Freundschaft über. Versicherungen unwandelbarer Treue wiederholen sich bis ans Ende.
Ein Herzensbedürfnis war es für Marianne, den Dichter mit Dienstleistungen zu erfreuen, die sich bis auf Küche und Garten erstreckten. So versorgt sie ihn, der in Weimar die Gartenfrüchte seiner Frankfurter Heimat ungern vermißt, jedes Jahr zur gewissen Zeit mit Artischoken, einer Lieblingsfrucht Goethes, und vergißt nicht, ein Dutzend Flaschen kostbaren Rheinweines beizufügen, die in den Briefen regelmäßig als „Die zwölf Apostel“ figurieren. Noch im Jahre 1831 berichtet sie nach Weimar, daß sie von Stift Neuburg aus die Erinnerungsplätze auf der Heidelberger Schloßhöhe aufgesucht und sich ein Blatt von der Gingo biloba gepflückt habe. Etwas später traf von Weimar aus ein wohlverschlossenes Paket auf der Gerbermühle ein, das die ernste Aufschrift trug: „Zur unbestimmten Stunde zu öffnen.“ Mit dieser Stunde war Goethes Tod gemeint, der nicht lange nach dieser Zeit eintrat. Das Paket, welches nun geöffnet wurde, enthielt sämtliche Briefe Mariannens an Goethe. Des Verklärten Andenken aber lebte fort in den Herzen Mariannens und ihres Gatten, wie nicht minder in der Familie des Rates Schlosser auf Stift Neuburg bei Heidelberg.
Johann Friedrich Schlosser entstammte einem von lange her in Frankfurt angesehenen Geschlechte. Sein Vater Hieronymus Schlosser, Jurist im reichsstädtischen Dienste, befaßte sich neben seinem Berufe mit schöner Litteratur und gab ein Bändchen lateinischer Gedichte heraus, worunter eines an Wolfgang Goethe, seinen Altersgenossen, gerichtet war. Die Sammlung enthält auch die deutsche Antwort des Besungenen. Der Bruder des Vaters war jener bekannte Georg Schlosser, der sich mit Goethes einziger Schwester verheiratete. Unser Schlosser, der „Rat“, hatte in Halle, Jena, wo er Schiller kennenlernte, und Göttingen Jura studiert und nebenbei historische und ästhetische Studien betrieben. In seine Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er unter die Advokaten aufgenommen, dann Stadtgerichtsrat, 1812 Oberstudienrat. Zwischen ihm und Goethe entspann sich ein reger brieflicher Verkehr. Daß er nach dem Tode von Goethes Mutter deren Hinterlassenschaft ordnen half, ist bereits oben erwähnt. Er blieb zeitlebens Goethes Vertrauensmann in Frankfurter Angelegenheiten.
Unangenehme Erfahrungen verleideten Friedrich Schlosser sein reichsstädtisches Amt; von da ab widmete er sich rein wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten, wozu ihm sein Vermögen reichliche Mittel bot. Im Winter lebte er in der Stadt, während der schönen Jahreszeit wohnte er seit 1825 in dem von ihm gekauften, herrlich am rechten Neckarufer bei Heidelberg gelegenen Stift Neuburg, das er in einen reizvollen Landsitz umschuf und mit Schätzen der Kunst und Wissenschaft füllte. Hier verlebte er die schönsten Tage seines Daseins, mit seinen Lieblingsstudien beschäftigt und sich wie andere durch Wohlthun erfreuend.
Friedrich Schlosser zählte, wie einer seiner Biographen sagt, zu den lautersten, edelsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Verehrt auch von denen, die weder seine strengreligiösen noch politischen Anschauungen teilten, bewahrte er sich eine Kindlichkeit des Gemütes und eine beim reichsten Wissen und Verdienst so aufrichtige Bescheidenheit, daß er ungesucht und unwillkürlich alle fesselte, die er in seine Umgebung zog. Eine ihn harmonisch ergänzende Natur war seine im Jahre 1809 ihm angetraute Frau Sophie, geb. Du Fay. Neben einem ruhigen, klaren Blick und der Fähigkeit, eine zuweilen kühle, ja scharfe Kritik zu üben, besaß sie die volle Wärme und schlichte Einfalt eines echten Frauengemütes, aus welch letzterer Eigenschaft sich die innige Freundschaft erklärt, welche zwischen ihr und Frau Marianne von Willemer – lange noch nach dem Tode ihrer Männer – bestand. Für Goethe bewahrte sie, trotz der Verschiedenheit ihrer Weltanschauung, eine begeisterte Verehrung. Wenn jemand es wagen wollte, sich abfällig über ihn zu äußern, so pflegte sie das Gespräch abzuschneiden mit den Worten: „Sie haben Goethe nicht gekannt“.
Gleiche Verehrung widmete dem Dichter bekanntlich der Gatte, der demselben bei Abfassung des Buchs „Aus meinem Leben“ dankenswerte Dienste leistete, indem er ihn mit reichhaltigen Notizen über die gemeinsame Vaterstadt versah. Schon zu Lebzeiten Goethes sammelte er alles von Schriften, Bildern und Münzen, die denselben betrafen, eine Aufgabe, in welcher ihn [627] der Dichter selbst häufig unterstützte; Schlosser legte sich eine Goethebibliothek an, die wohl einzig in ihrer Art war und beständig bereichert wurde. Als die Nachricht von dem Hingang Goethes eintraf, schrieb er an den gemeinsamen Freund Sulpice Boisserée:
„Von unserer Kindheit an hatte Goethes Gestirn mit immer gleichem Glanze über uns gestrahlt; Generationen waren neben ihm aufgeblüht und dahingewelkt; manches schön aufstrebende Talent, manches reiche Gemüt hatte sich wenigstens in Perioden der Entwicklung an ihn gerankt und seine Einwirkungen aufgenommen – und wie manche der uns theuersten unter diesen deckt längst das Grab, während wir uns gewöhnt hatten, dem alten Heros gewissermaßen eine Art physischer Unsterblichkeit beizulegen. In ihm und in dem im verflossenen Jahre geschiedenen Minister v. Stein starben die beiden kräftigsten Heldennaturen, die mir im Leben begegnet.“
Man begreift, daß Menschen, wie das Schlossersche Paar, ganz dazu bestimmt erschienen, dem Herzen Mariannens das zu gewähren, was sie nach dem Tode des Freundes und dem gegen Ende der dreißiger Jahre erfolgten Ableben ihres Gatten entbehren mußte. Namentlich fühlten sich, wie bereits angedeutet, die beiden Frauen voneinander angezogen. Das Band zwischen den Familien Willemer und Schlosser war schon früh geknüpft worden, und zwar durch die gemeinsamen Beziehungen zu Goethe. Jetzt, nach dem Tode des Dichters, schloß das gemeinsame Bedürfnis, dem Andenken an den großen Toten gegenseitig Ausdruck zu geben, die Drei noch enger zusammen.
Nachdem Marianne als Witwe die Gerbermühle veräußert hatte, wohnte sie während der Wintermonate in einem behaglichen Heim innerhalb der Stadt; in der schönen Jahreszeit aber weilte sie häufig, oft ständig als Gast auf Stift Neuburg bei Heidelberg, mit welcher Stadt sich so schöne Erinnerungen verbanden! Im Umgange mit Rat Schlosser und dessen Gattin bewahrte sie sich bis ins Alter die Frische des Geistes und Heiterkeit des Gemütes, deren sie sich seit früher Jugend erfreut hatte. In ihrer Winterwohnung war sie nicht selten von Künstlern und Gelehrten, immer mit Büchern und Schriften umgeben, durch welche sie ihr Wissen fortgesetzt bereicherte. Den Nachruhm Goethes verfolgte sie mit Eifer, ohne daß sie es liebte, von dem Dichter mehr zu sprechen, als dringende Umstände es verlangten. Ein kostbares Vermächtnis war ihr Goethes Briefwechsel, den sie mit Pietät und Verständnis ordnete und sichtete. Auf Stift Neuburg, wo sie im Laufe der Jahre mit vielen hervorragenden Männern der Wissenschaft bekannt geworden, weilte sie übrigens zum letztenmal im Herbst des Jahres 1860. Schon war sie den Schloßberg, nachdem sie Abschied genommen hatte, halben Wegs heruntergefahren, als sie plötzlich ein liegengebliebenes Häubchen vermißte. Sie gab dem Kutscher Befehl, umzukehren, besann sich aber wieder eines andern, indem sie es als glückliches Omen für ihre Wiederkehr hielt, wenn einer ihrer Gegenstände in dem lieben Hause zurückblieb.
Am 6. Dezember des gleichen Jahres entschlief sie, die allen, welche ihr auf dem Lebensweg begegnet waren, nur Freude bereitet hatte. Ihr Briefwechsel mit Goethe blieb weiter der Oeffentlichkeit entzogen. Als ihn 1877 der Frankfurter Goetheforscher Theodor Creizenach herausgab, fand der Wert dieser Kostbarkeiten aus dem Erbe zweier Dichternaturen sogleich allgemeinste Würdigung.
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Vieles, was außer diesem Briefwechsel an die seltene Frau gemahnt, ist, wie ich wußte, auf Stift Neuburg bewahrt, dessen jetziger Besitzer, Freiherr Alexander von Bernus, die Gegenstände in treue Hut und Pflege genommen hat. Mit einer Empfehlung von einem Verwandten des Schloßherrn an diesen wurde es mir nicht schwer, in den nur dreiviertel Stunden von Heidelberg entfernten, reizvoll gelegenen Landsitz Zutritt zu erhalten. Von der Stadt führt der Weg über die Neckarbrücke, dann flußaufwärts der Straße entlang, an fruchtbeladenen Weinbergen vorbei, während rechts die malerische Schloßruine aus Waldesgrün herübergrüßt. Bald nachdem ich um einen Bergesrücken gebogen, gewahrte ich die hart am Neckarufer sich erhebende Stiftsmühle und hoch über derselben das noch immer an seinen einst klösterlichen Zweck erinnernde Stift. Nachdem ich, die Fahrstraße meidend, den von rückwärts über den Schloßberg, an dichtem Buschwerk und einem kleinen Weiher vorbeiführenden Fußweg emporgestiegen, stand ich bald vor dem Eingange zu dem Edelsitze. Es dauerte nicht lange, so war ich mit wohlthuender Gastlichkeit aufgenommen.
Der Schloßherr selbst führte mich umher, zunächst durch mehrere Gänge, deren Wände mit Kupferstichen, Radierungen und Gemälden bedeckt waren, in die Bibliothek. Diese weist noch immer, nachdem viele Bestandteile laut Testamentsbestimmung in andere Bibliotheken übergegangen sind, eine ansehnliche Fülle von wissenschaftlicher und schöngeistiger Litteratur auf. Der sogenannte gotische Saal, den wir hierauf betraten, entstand aus dem zu einem Museum umgewandelten Schiff der alten Stiftskirche. Hier erblickt man zunächst treffliche Gemälde; neben historischen Bildern und Landschaften die Bildnisse von Familiengliedern des Hauses, unter denen das des Schlosserschen Paares das erste Interesse beansprucht. Unverkennbar ist in dem Gesichte des Mannes das gefestigte Wesen seines Charakters ausgedrückt, in dem Antlitze der Gattin, der „gestrengen Frau Rat“, wie sie schon in jungen Jahren ob ihrer ernsten Würde genannt wurde, die seltene Verbindung von frauenhafter Gemütswärme mit einem fast männlichen Geist. Ein besonders stimmungsvoller Raum ist das einstige Studierzimmer des Rates; der gotische Ueberrest einer Kapelle aus alter Zeit, im Gemüte des Besuchers fast Andacht erweckend, erscheint er wie geschaffen für die Thätigkeit Schlossers. Dieselbe – weniger freischaffend als reproduktiv – erstreckte sich hauptsächlich auf Übersetzungen poetischer Werke aus fremden Sprachen, so übertrug er Fauriels neugriechische Lieder. Sein Hauptwerk ist „Die Kirche in ihren Liedern durch alle Jahrhunderte.“ Eine Uebersetzung von Goethes „Freudvoll und leidvoll“ in zwölf Sprachen widmete er „huldigend“ der „Frau Geheimeräthin von Willemer“.
Eine eigene Abteilung ist der Erinnerung an Marianne v. Willemer geweiht. Zahlreiche Bildnisse zeigen sie in allen Abschnitten ihres Daseins, vom neckischen Mädchen bis hinauf zu der ruhig betrachtenden Matrone, immer aber heiter in die Welt schauend, im Alter noch ein anmutendes Frauenbild. Nicht fern [628] von diesen Porträts, am passendsten Platze, steht auf einer Staffelei das lebensgroße Bild Goethes, das kostbarste Kleinod des an Kunstschätzen so reichen Hauses. Der Dichter selbst hat es gestiftet, was die geschnitzten Namen auf dem Rahmen bezeugen. Es zeigt ihn (vgl. die Abbildung S. 627) in der Galatracht des Ministers, die Miene dementsprechend ernst und gemessen, das Auge geistsprühend. Das Bild rührt von der Hand des Dresdner Malers Gerhard von Kügelgen her, der es 1810 in Weimar malte. Rat Schlosser erhielt das Porträt offenbar als Zeichen des Dankes für die zahlreichen Dienstleistungen, deren er sich für den Freund und Landsmann unterzogen hatte. In dem Begleitschreiben vom 24. Januar 1811 nennt sich der Geber glücklich, das Bild übersenden zu können, und wünscht, daß es Beifall finde. Dieser Wunsch erfährt bis zur Stunde immer neue Erfüllung.
Der an das „Goethezimmer“ stoßende Raum enthält fast ausschließlich Gemälde von Meistern der romantischen Schule, Schnorr von Carolsfeld, Overbeck, Steinle, Moritz von Schwind u. a. Außerdem überraschen das Auge, wie überall an geeigneter Stelle, wertvolle Altertümer und kleinere Kunstwerke, wie Schnitzereien, Vasen und Majoliken, unter diesen Gegenständen viele Reiseerinnerungen des Besitzers. Der kostbarste Gegenstand aller Kunstschätze aber ist eine 11/2 Fuß ins Geviert messende Kassette, ein Schatzkästchen von einziger Art; es trägt in goldenen Lettern die Aufschrift: Goetheana. Der glückliche und gütige Besitzer ließ mich den ganzen Inhalt sehen und gab mir Stück für Stück in die Hand. Es sind dies seltene Gelegenheitsschriften, die sämtlich auf Goethe Bezug haben oder von ihm herrühren, Autogramme von Dichtern, wie Lenz und Klinger, sowie ein vollständiges Tagebuch von Goethes Jugendfreundin, dem Fräulein von Klettenberg, Originalbriefe von des Dichters Vater, Mutter und Sohn. Einem Briefe der „Frau Rat“ an Hieronymus Schlosser ist ein kleiner Zettel mit Umschlag beigelegt, beides von ihrer Hand überschrieben. Der Zettel enthält einen Bibelvers, ein Zeugnis fröhlichen Gottvertrauens.
Bedeutender und zugleich zahlreicher sind Goethes eigene Briefe, besonders wertvoll der im Jahre 1786 aus Rom an seine Mutter gerichtete; in demselben ist von dem wunderbaren Umschwung die Rede, der sich in seiner Künstlerseele seit der Anschauung der Antike in Italien vollzogen. „Wie wohl mir’s ist,“ heißt es, „daß sich soviele Träume und Wünsche meines Lebens auflösen, daß ich nun die Gegenstände in der Natur sehe, die ich von Jugend auf in Kupfer sah, und von denen ich den Vater so oft erzählen hörte, kann ich Ihnen nicht ausdrücken.“ . . . Auch einige Gedichte sind vorhanden, im ersten Entwurfe niedergeschrieben und mit Korrekturen versehen. Den Hauptbestandteil der Goethebriefe bildet das halbe Hundert Originalbriefe, welche Fritz Schlosser in den Jahren von 1808 bis 1830 vom Dichter erhalten hat und die in dem Bande „Goethe-Briefe aus Fritz Schlossers Nachlaß“ von Julius Frese herausgegeben worden sind. Sie unterscheiden sich natürlich vielfach von denen, welche an Suleika und auch an litterarische Freunde gerichtet sind, zumal häufig geschäftliche Angelegenheiten den Inhalt bilden; gleichwohl sind sie ein schönes Denkmal freundschaftlicher Treue. Gerade der letzte Brief ist insofern von besonderer Bedeutung, als in ihm auch von Stift Neuburg die Rede ist. Schlosser hatte dem Dichter eine Abbildung seines Landsitzes zugeschickt, worauf ihm die Antwort zu teil wird: „Es war, wirklich, theuerster Herr und Freund, ein sehr glücklicher Gedanke, durch einen geschickten Künstler Ihre ernst-heitere Wohnung und die unschätzbare Gegend abbilden und vervielfältigen zu lassen; es kann uns nichts Freudigeres und mehr Ermunterndes begegnen, als wenn wir, zugleich mit guten und herzlichen Worten, auch ein vorzügliches Lokal erblicken, wo Sie behaglich verweilen, wo Sie an uns denken, von woher Sie Ihre Schreiben an uns richten. Es entsteht daraus eine gewisse Unmittelbarkeit des Zusammenseyns, welche höchst reizend ist.“ Goethe hatte nie auf Stift Neuburg geweilt, da es zu jener Zeit, wo er in die Gegend kam, noch nicht in Schlossers Besitz war. Allerdings hatte er es gesehen, und zwar auf einer Reise von Heidelberg nach Stuttgart, und dessen Lage als sehr anmutig geschildert. Aber durch die vielen Beziehungen Mariannens von Willemer zu dem Stift und seinen Bewohnern war es seinem Geist jetzt ganz besonders nahe gerückt.
Am Theetisch im Salon erfuhr ich das Wichtigste aus der reichen Vergangenheit des Stiftes: wie es, schon im 11. Jahrhundert von Benediktinern des Klosters Lorch gegründet, bis zur Reformation den Ordenszwecken diente und dann zu einem Frauenstifte mit ziemlich weltlicher Verfassung umgeschaffen wurde, von welcher Zeit noch heute die auf S. 625 abgebildete Grabplatte einer Aebtissin zeugt. Im 18. Jahrhundert wurde das Stift den Jesuiten als Lehr- und Erziehungsinstitut überlassen; nach Aufhebung der Gesellschaft Jesu blieb es eine Zeit lang unbewohnt, bis es in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vom Rat Schlosser die Gestalt des reizenden Landsitzes erhielt, der es heute noch ist. Während Schlosser hier weilte und wirkte – der „Onkel“, als der er noch heute im Stifte Neuburg gilt – war das Stift eine Herberge der Wissenschaft, ein Stelldichein von Künstlern und Gelehrten. Das gastliche Haus wurde von weltlichen und geistlichen Würdenträgern, sowie von Trägern berühmter Namen nie leer. Von diesen seien erwähnt Ludwig Tieck, Sulpice Boisserée, der „römische Kestner“ (Lottes Enkel), Walter und Wolfgang von Goethe, Wilhelm von Humboldt, der Freiherr vom Stein, aus späterer Zeit der Erbgroßherzog Friedrich, jetziger Großherzog von Baden. Mit Ludwig Tieck war Marianne von Willemer zusammen auf Neuburg, worüber sie am 2. November 1828 an Goethe berichtet hat. Jetzt findet in der kunstsinnigen Familie Bernus die Gastfreundschaft des Hauses, wie auch ich erfahren sollte, eine erfreuliche Fortsetzung und das Andenken edler Menschen eine pietätvolle Pflege. Mit gehobener Stimmung verließ ich die ehrwürdige und doch so heiter ins Land blickende Stätte.