Zum Inhalt springen

Um zehn Pfennig

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: I. Frapan
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Um zehn Pfennig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 578–579
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[578]

Um zehn Pfennig.

Eine Hamburger Skizze von I. Frapan.

Es war im Frühsommer; die Straßen hatten das eigenthümlich sonntäglich-feierliche Aussehn, das sie immer haben, wenn die Pflastersteine vom Regen gespült und die Pfützen wieder aufgetrocknet sind. Von der Englischen Planke herunter wehte der Duft von blühenden Syringen, und unten am Hohlen Weg, wo derselbe in den Scharmarkt mündet, stand oder kauerte ein ganzer Haufen kleiner Knirpse um eine Anlage aus weißem Sand, die erste diesjährige „Ehrenpforte“. Grüne Zweige und dicke rothe Marmelblumen waren schon ringsum eingepflanzt, Lichtstümpfchen staken schon hier und da, aber noch viel mehr waren nöthig, und einer der kleinsten Jungen, ein weißhaariger stämmiger Kegel in blauweißem Leinenanzug, hatte das Amt, sich den Vorübergehenden in den Weg zu stellen und mit abgezogener Mütze Pfennige für die Ehrenpforte einzukassiren. Das war der Hamburger Kinder Recht und alter Brauch, der sich von Gott weiß welcher Festlichkeit erhalten haben mochte, und das „Sammeln“ geschah nicht etwa demüthig und bittweise, sondern mit sicher und keck in die Höhe gerichteter Stumpfnase. Nur die Fremden pflegen auf dies Ansinnen mit einem verwunderten Gesicht zu antworten und sich rechts und links nach der „Ehrenpforte“ umzusehen, wobei natürlich der bescheidene Maulwurfshaufen zu ihren Füßen ihren Blicken völlig entgeht. Ist aber der „Angesammelte“ ein Hamburger, so weiß er sogleich, um was es sich handelt; lächelnd fügt er sich dem geheiligten Brauch, zieht seinen Beitrag hervor und denkt der Zeit, da er selber Ehrenpforten baute.

Der da jetzt den abschüssigen Hohlen Weg herunterkam, hatte früher auch welche gebaut, es war aber schon ein paar Jährchen her. Es war ein älterer Mann, dick, kurzbeinig, mit breitem rothen Gesicht, in dem ein beständiges Lachen zuckte. Der schmale schwarzgraue Bartrand, der einzig dem Rasirmesser entgangen, sträubte und glättete sich abwechselnd. Aber er lachte in sich hinein, nicht über die Jungen, von denen er noch ein gutes Stück entfernt war. Das Lachen zog ihm manchmal so stark in die Beine, daß er sich an einem Beischlag festhalten mußte, um nicht hinzutorkeln. „So’n bannigen Witz“ hatte er lange nicht gehört, und die alten pensionirten Droschkenkutscher lieben bannige Witze zu ihrem Grog. Der Grog war auch steif und heiß gewesen; er war ihm noch süß auf der Zunge, und der Magen so angenehm warm und der Kopf beinah zu warm. Er nahm den etwas beuligen schwarzen Cylinder ab, fuhr sich mit dem rothen Taschentuch über den großen Schädel, der in der Mitte nackt und weiß wie eine Hand war, und drehte und striegelte dann den Hut mit seinen Händen. Dann lachte er wieder, daß die dicke goldene Uhrkette auf seiner bunten Sammetweste tanzte. So kam er in kleinen Absätzen, bald vorsichtig tappend, bald mit übereiltem Stolpern, die kleinen Ritzaugen fast zugekniffen, aber den Blick durch den Liderspalt immer auf den Hut geheftet, vollends die Straße herunter. Ehe er sich’s versah, stand der kleine Blauleinene vor ihm: „Wird gesammelt für die Ehrenpoort!“ – erscholl es plötzlich, daß der vergnügte Mann schier zurückfuhr. Der Hut entfiel seinen Händen, und bei dem unsichern Bücken danach schwoll sein Gesicht blauroth an, die Finger spreizten sich und tasteten nach einem Halt, bis sie sich zuletzt väterlich zärtlich um den Kopf des kleinen Jungen schlossen. Aber nur einen Augenblick; der „Krabauter“ schüttelte ihn trotzig ab.

„Wird gesammelt für die Ehrenpoort,“ wiederholte er. Der Mann stand schon wieder fest, aber das Experiment mit dem Hutaufheben durfte er nicht noch einmal wagen. Ein leuchtender Gedanke fuhr ihm durch den nebligen Kopf.

„Mit de paar Kröten kann min Ohlsch doch nix mehr anfangen,“ brummte er in sich hinein.

„Jung! Jungens!“ schrie er dann laut, „weet Ji wat? Ick will Ju teihn Penn’ in de Grabbel smieten, un wer se kriegt, de langt mi dafor min Hoot wedder her.“

„Hurrah,“ antworteten die Kinder, „he smitt teihn Penn’ in de Grabbel! Fix, Jungens, fix!“

[579] „Paßt op! een, twee, dree!" rief der Alte, spreizte die kurzen Beine, bog den Oberkörper nach hinten und warf das Geldstück weit ausholend über aller Köpfe weg die Straße aufwärts. Mit ausbündigem Jauchzen stürmten die Kinder darauf zu, sie stießen und drängten sich purzelnd über einander, alle Köpfe lagen am Boden, von den kleineren auch die Leiber, ein dicker Knäuel; die kleine Münze mußte in eine Ritze zwischen den Pflastersteinen gerollt sein, wo? wo? Das Lärmen und Lachen verstummte, es ward eine athemlose Suchstille; der Droschkenkutscher war fast so gespannt wie die Kinder; in seiner dumpfen Lustigkeit stand er noch immer lachend, barhaupt auf der stillen sonnigen Straße.

Da plötzlich in die lautlose Spannung hinein dröhnte ein eigenthümliches Kettengerassel vom oberen Straßenrande. Was ist das? Die Kinder rühren sich nicht, aber der alte Kutscher hat den schweren Kopf umgedreht und zwinkert unter der vorgehaltenen Hand in die volle Sonne hinein. Das Rasseln kommt näher, immer näher.

„Donnerwetter!“ schreit er auf. „Jungens! Gören! ut den Weg! De Sadel is leddig un de Peerd’ sünd dörchgahn! Jungens! Gören!"

Das war es! Ein langer schwerer Bierwagen mit vollen Fässern, an rasselnden Ketten behangen, kam in rasendem Rollen die steil abfallende Straße herunter, gerade auf den Kinderknäuel am Boden. Die hoben kaum den Kopf, die merkten nichts, die hatten ihr Zehnpfennigstück noch immer nicht gefunden. Mit einem plötzlichen Satze war der Alte vom Trottoir herunter, die wackligen Beine gewannen Riesenkräfte, noch einmal rief er hinter sich: „Ut ’n Weg!“ Dann stürzte er mit dem Rufe: „Wullt Du stahn, Du ...?“ dem schäumenden Handpferd in die Zügel, zehn Schritte vor dem jetzt schreiend zerstiebenden Kinderhaufen. Thüren wurden aufgerissen, aus den Kellern eilten die Frauen herauf, um ihre Kleinen angstvoll an Kleidern und Armen fortzureißen, ein furchtbarer Tumult entstand, aber nur auf den Trottoirs, der Fahrweg war schon wieder frei. Nur einen kurzen Augenblick hatten die Pferde gestanden, dann rasten sie die Straße vollends hinunter, um auf dem Markte zitternd und schnaufend still zu halten; das schwere Gewicht des Wagens hatte sie vorwärts gedrängt, das schwere Gewicht des Wagens war über die alte lustige Gestalt des Mannes hinweg gegangen, die da rücklings mit ausgestreckten Armen mitten auf der schrägen Straße lag, ganz still lag. Eine große Menschengruppe umstand ihn; auch die war still. Bis der Arzt kam, zu dem mehrere Personen schon geeilt waren, wollte man ihn nicht anrühren. Eine Frau weinte hörbar; ihr kleines Mädchen war mit unter den suchenden Kindern gewesen. Jetzt schlug er die Augen auf und sah die vielen Leute. „Dat ward all wedder beter,“ sagte er leise. „De Sak, de is man unbedüdend. Sünd de Gören alle heil?“

„Ja, ja!" erwiderten mehrere Stimmen.

„Dat hew ick mi ook nich dacht,“ fuhr er immer schwächer fort, „erst de bannige Witz un nu dät noch! Aber slimm is dat nich.“

Ein rothbäckiger helläugiger junger Mann von energischen Manieren trat zwischen die aus einander weichende Menge; es war der Polizei-Arzt. Er knieete neben dem Verletzten nieder und öffnete das blutige Hemd, auf dem die zerrissene Uhrkette baumelte. Er hatte schon gehört, wie es hier stand; die weinende Frau hielt mit dem Schluchzen inne, und auch die Anderen athmeten ängstlich und gepreßt. Nun erhob sich der Arzt wieder und trat schnell auf ein paar Leute zu, die auf dem Trottoir mit einem Tragkorbe zwischen zwei langen Stangen warteten.

„Lassen Sie ihn liegen bis nachher,“ sagte er flüsternd, „wir wollen ihm nicht nutzlos Schmerzen bereiten; er scheint keine zu haben; es ist gleich vorbei. Und dann nach dem Krankenhause natürlich, ich komme gegen Abend wegen des Todtenscheins vor.“

Er ging eilig. Der Schatten seiner langen Figur flog über die festtäglich saubere Straße. Festtäglich sauber auch noch, als man die schwere Leiche fortgetragen hatte und ein geringer Blutflecken zurückblieb. Er beschmutzte sie nicht.